Craig Mack – Flava In Ya Ear
Ich möchte noch weiteren Track und einen weiteren Producer als Beispiel heranziehen, an dem sich der Sound der SP-1200 in einer hochkonzentrierten Reduktion nachvollziehen lässt: Craig Macks »Flava In Ya Ear« von 1994. Und weil das Einkochen einer Reduktion ja immer auch eine besondere geschmackliche Komplexität erzeugt, möchte ich den Versuch unternehmen, mir diesen so entschiedenen reduzierten Beat auf der Zunge zergehen zu lassen. Ja, »Flava In Ya Ear« ist der einzig treffende Titel für diesen Track. Sonic Fiction als eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Kurze Vorrede: Auch der Produzent des Tracks, Easy Mo Bee, ist als ebenso versierter wie leidenschaftlicher Nutzer der SP-1200 bekannt. Auf zeitweise bis zu drei Geräten parallel hat er Tracks für Notorious B.I.G. und Tupac Shakur, für die Lost Boyz und eben Craig Mack produziert. Und auch auf dem letzten Miles Davis Album doo-bop, das Easy Mo Bee produziert hat, hat die Maschine deutlich klirrende Spuren hinterlassen.
»You know I used the SP-1200 throughout the entire last Miles Davis album ›Doo-Bop‹. You know the jazz purists pissed on that album they were all like ›That’s not jazz‹. And while we are at it we might as well declare that the last Miles Davis album was produced on an SP-1200. That sounds ill, don’t it? You would have thought he would have gone and got all the best musicians but no he went the other way and got Easy Mo Bee and his little band inside the SP-1200.«
Easy Mo Bee zit. n. PBody (2011): SP-1200. The Art and the Science. Tarascon: 27sens. S. 208
Zur SP-1200 wiederum hat er seit jeher ein besonders enges künstlerisches Verhältnis, das sogar soweit geht, dass er die Maschine bereits vor ihrer Veröffentlichung 1987 buchstäblich erträumt haben will:
»I’ll tell you something crazy too, man: before the SP was even made, this is no lie, I used to sit up and dream there was a machine where I could take a kick from this record and a snare from that record and put that in their[sic!] too, and transpose it and playback my own baseline; or maybe snatch a piece of guitar and make my own music with it, and then E-MU made the machine. Then Marley Marl came out using it and Ced Gee, Howie T, Herby Lovebug and all these other producers started using the machine.«
Easy Mo Bee zit. n. ebd., S. 208
Die Maschine als träumerische Wunschprojektion. Noch einmal bestätigt sich hier die oben diskutierte These, dass die Sampling-Drum-Machines innerhalb der Soundkultur HipHop deswegen so wichtig sind, weil sie sich hier in eine bereits vorhandene dynamische Konstellation aus ästhetischer Praxis und entwickelten Sensibilitäten einfügen, die relativ unmittelbar an die Klanglichkeit und die je gestaltbaren Parametern der Maschine anschlussfähig sind. Die SP-1200 antwortet in Easy Mo Bees rhythmaschinischer Rêverie immer schon auf einen Wunsch, den er wie eine Minimaldefinition von Breakbeat-Science formuliert – take kicks and snares, snatch a piece of guitar and make my own music.
Craig Mack also: »Here comes the brand new flava in ya ear…« Zwei Töne, mehr nicht. Ich kann einen Ganztonschritt nach oben darin hören, von b auf c in etwa – aber damit ist natürlich überhaupt nichts gesagt. Von der der Eins aus wabert der erste Ton weit in den Takt hinein, sinkt dabei quäkig nach unten ab und streut zugleich zuckriges Aliasing über die absolut trockenen Drums. Auf der 2-und zieht der höhere den ohnehin bereits nickenden Kopf noch ein Stückchen weiter in den durchgespannten Nacken hinein. Und von vorne. Craig Mack nuschelt »bidder badder chitter-chatter« über den Beat – auch bei seiner Vocal-Performance geht es offensichtlich viel mehr um einen Groove, denn um ausgefeilte Semantiken und filigran doppelt gereimte Satzbauten. Ein kreischender Sound, auch er voller digitaler Artefakte, bricht immer wieder in den Loop hinein.
Zwei Töne, das ist alles. Alles jedenfalls, was mich eine pseudo-musikanalytisch und doch triviale Sprache ein wenig auftrumpfend sagen ließ. Mein Hören, diesen flava in my ear, bekomme ich damit nicht in den Griff. Das Gehörte auf diese zwei Töne herunterbrechen zu wollen, scheint mir eine ziemliche Geschmacklosigkeit. Ich nicke weiter mit dem Kopf zum Loop und frage mich, was es hieße, gerade diesen scheinbar so simplen Beat abzuschmecken, anstatt ihn hörend in seine wenigen Einzelteile zu zerlegen. In diesem Beat bloß die Trivialität zweier Töne hören zu wollen, begeht den so ordinären Fehler einer analytischen Bezifferung, die am Phänomen geradewegs vorbei rauscht. Und das wäre durchaus vergleichbar mit der rein kalendarischen Verzeichnung eines Weines durch seine Jahreszahl, wie Michel Serres sie leidenschaftlich kritisiert (vgl. Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 205ff.). Serres wiederum mag an vieles gedacht haben in seiner Hymne auf den Geschmackssinn – aber sicher nicht an das subtile klangliche Nachschmecken entlang von digitalen Artefakten in 90er-Jahre Rap-Tracks. Dennoch erscheinen mir seine Gedanken zum 47er Chateau d’Yquem allemal dichter an diesen Flava heran zu kommen, als es zwei Tönen je gelingen wird. Ich lasse also den Beat laufen, habe die Platte umgedreht, höre die Instrumentalversion und mache erstmal mit Michel Serres eine Flasche Wein auf.
»Die Weisheit kommt nach dem Geschmack, sie kann nicht ohne ihn kommen, aber sie vergißt ihn.«
Serres 1998, S. 207
In Serres’ Beschreibung wird der Yquem zur Vegetation, zur Landschaft und zur Geschichte. An den Wurzeln seiner Reben fließen die Vielfalt der Böden, die wechselnden Jahreszeiten, die Dürren und Regenzeiten, die Spuren von Kultur und Bewirtschaftung ineinander. In den Trauben finden sich all die intempéries aufgesogen, in denen sich im Französischen die Witterungen und Unwetter immer nur als (Un)Zeiten denken lassen.[1] Der Wein in der Flasche schließlich hat nichts von einer Essenz, die sich durch eine bloße singuläre Jahreszahl angeben ließe. Die Einmaligkeit dieses einen Jahrgangs ist einmalig immer nur in ihrer irreduziblen Vielheit. Der Wein bei Serres’ ist Inbegriff und Ausgangspunkt seines konfusen Wunsches, »unsere Sprache möchte doch ein Wort bereitstellen, das die Konfluenz, dieses Zusammenfließen, zum Ausdruck bringt. Aber wir kennen weder coverseau noch ›Syrrhese‹.« (Vgl. ebd., S. 214)
Und gerade der Geschmack scheint dem Zusammenfließen, dem Gemisch, der Syrrhese zugewandter, weil er sich die Zeit lässt, deren Komplexität zu entfalten, anstatt sie analytisch vereinfachen zu wollen. Der Geschmack ist eine genuine »Philosophie der Konfusion« (vgl. ebd., S. 217). Bevor all der Wein und Serres’ schwelgerischer Ton mir endgültig zu Kopf steigen, lese ich bei Eshun nach:
»At these convergences, beats phase shift, cross a threshold and become tactile sensations that sussurate the body. Fleeting sensations of feeling skim across the skin, seizing the synapses. Senses swap so that your skin hears and your ears feel. Dermal ears. Your skin turns into one giant all-over ear. Ear tactility. Your ears start to taste sound. Now you’ve got flava in your ear.«
Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant than the Sun. Adventures in Sonic Fiction. London: Quartet Books. S. 77
Auch hier ist Flava das Zusammenfließen, das Verschwimmen einer strikt hierarchisch gedachten Sinnesorganisation. Ich drehe ich die Platte noch einmal zurück. Der Loop läuft mit gemächlichen 90 BPM. Ich lasse ihn genüsslich kreisen, versuche Details darin auszumachen – nicht um sie zu erkennen oder zu katalogisieren, sondern um des bloßen Kreisens, um der Hörempfindung selbst willen. Hinter der scharfen Attack der Snare etwa zieht sich erst ein minimaler holziger Bauch der Trommel, dann aber viel deutlicher ein kurz aufwallendes Knistern der Platte, von der Easy Mo Bee gesamplet haben muss. Je genauer ich hinhöre, desto mehr übernimmt das Knistern selbst eine protorhythmische Funktion, spielt eine groovend verschleppte Sechzehntel-Note zwischen den Backbeat der Snare und die Off-Beat-HiHat. Die Medienmaterialität der Schallplatte, die Easy Mo Bee ausgegraben, aufgelegt, gesamplet und in der SP zurecht gechoppt hat, lässt sich in diese wenigen Millisekunden Knistern hineinhören. Der Staub, der sich in die Rille gelegt hat. Die ungezählten Male, die die Nadel sich ihren Weg hindurch gebahnt hat. Ich weiß nicht, was das für Drums sind, woher sie stammen. In einschlägiger Runde wird spekuliert, ob es sich vielleicht um die stark mit einem EQ bearbeiteten »Impeach The President«-Drums handelt – Easy Mo Bee hätte das wohl in einem Interview mal angedeutet –, oder nicht vielleicht doch eher um Parliament.
Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Da sind immer noch diese zwei Töne, von denen ich auf Anhieb nicht einmal genau sagen kann, welches Instrument sie irgendwann einmal gespielt haben sollte. Auch und gerade über dieses Sample wird wild spekuliert, alles scheint aber auf eine einzeln gesamplete Gitarren-Note hinauszulaufen – vielleicht von Wes Montgomery, vielleicht von O’Donel Levy –, die Easy Mo Bee mit extra viel Hall versehen und in der SP-1200 weit nach unten transponiert hat, um dann diese zwei Noten zu spielen. (Das bestätigt Easy Mo Bee sogar selber im Interview, wobei man diesen Selbstaussagen erfahrungsgemäß nicht immer trauen kann, hatte er doch schon verschiedene Samplequellen angedeutet und offenbar einen Spaß gefunden, die Diskussion weiter zu verwirren.) Das Absinken der Töne war einmal das stark verlangsamte Anzupfen einer Jazzgitarre. Ein Tremolo lässt sie unter dem Kopfhörer durch das Stereo-Panorama wanken. Mit einer Gitarre hat dieser Sound dann nicht mehr viel gemein. Wenn ich ein Instrument hinter diesem verklirrten Quaken hören möchte, kann das nur die SP-1200 sein. Deren Sound-Processing, ihr Pitch-Shifting und das resultierende Aliasing fließen mindestens ebenso in das Gehörte mit ein, wie diese Gitarre, die irgendwann auf Schallplatte gepresst wurde, eingestaubt ist und von Easy Mo Bee schließlich ausgegraben und in die SP gesamplet wurde. All das fließt zusammen in diesen zwei Tönen. Easy Mo Bee:
»You know, you would think you would need all those other big busy elements for a melody to carry the song. Those two notes, that was the melody, that carried the song, and everything else was built around it.«
Das ist insofern übertrieben, als ja um diese beiden Töne herum außer den knisternd groovenden Drums kaum etwas passiert. Da ist noch dieser kreischende, Sirenen-artige Sound, der noch verzwicktere Crate-Digging-Rätsel aufgibt als das Hauptsample. Dem wird aber ansonsten einfach Raum gelassen, um zu wirken. Ich kann dieser Reduktion zuhören, wie sich in der mitgesampleten Hallfahne, im Absinken der Töne viel mehr als nur diese zwei Noten verstecken. Ich kann versuchen, Harmonien über den vom Aliasing zerklüftete Oberfläche zu hören, kann die Sounds immer weiter hörend auffalten. Wie einen guten Wein. Aber das ist natürlich Quatsch. Oder? All die organischen Geschmäcker und feinen Nuancen, die bei Serres in den steinigen Boden des Weinbergs hineingesickert sind, sind doch etwas ganz anderes als dieser flava in my ear?
Ja und nein. Das Phänomen, in das ich hier so prätentiös etwas hinein zu hören versuche, ist natürlich erstmal nur der Effekt einer aus heutiger Sicht technisch unzureichenden Analog/Digital-Wandlung und eines rudimentären digitalen Signal-Processing. Technischer Mangel. Rauschen. Aber ist nicht auch die Gärung des Weines zuerst ein Verfallsprozess? Die Nuancen und Geschichten, die der Wein am Gaumen aufspannt, sind vor allem das Ergebnis einer Wahrnehmungshaltung, einer Bereitschaft, die eigene Wahrnehmung entlang der Phänomene zu verfeinern. Sensorisches Engineering in eben diesem Sinne bedeutet nicht einfach die Wahrnehmung zu technisieren. Es hieße vielmehr, die eigenen Sensibilitäten als eine Bastelei zu begreifen, die sich immer filigraner ausformen lässt. Es lässt sich immer (noch) mehr in den Klängen hören. Die scheinbar so simplen und doch obskuren Samples aus Easy Mo Bees »Flava In Ya Ear«-Beat spannen klangliche Komplexitäten auf und wollen differenziert gehört werden. Abgeschmekt vielleicht?
Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.
Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 526-532.