Listening Session #10

Missy Elliott – Lose Control / Cybotron – Clear

»Music make you lose control! Music make you lose control! Let’s go!« – Boom und Clap Boom und und Clap und! Darüber dieses eiskalt chromatische Synthesizer-Arpeggio in Dauerschleife. Alles an diesem Track ist ikonisch. Fatman Scoops unverkennbarer Kommando-Ton, das sich selbst überholende Drum-Pattern, Missy Elliotts entschleunigter Halftime-Rap. »Plan rocker, show stopper / flo fropper, head knocker / beat staller, tail dropper / do ma thing motherfuckers«. Drei Jahre zuvor, auf ihrem Track »Work It«, hatten Missy Elliott noch vier glockige Takte »Take Me To The Mardi Gras« von Bob James gereicht, um klassischen Breakbeat-HipHop von der Block Party zurück in die eigene 2002er Zukunft zu pumpen. Auf »Loose Control« nun geht sie wieder einen Schritt back (and forth) to the oldschool. Der Track ist eine klangliche Zeitreisekapsel, die auf einen Punkt vor der Ausdifferenzierung des futurhythmatischen Kontinuums zielt. Zurück vor die soundkulturell so folgenreiche Verkündigung der Dreifaltigkeit House / Techno / HipHop.

»Lose Control« klingt nach Electro – also jenem etwas einfallslosen Sammelbegriff, unter dem zu Beginn der 80er Jahre all die neuen Formen soundkultureller Praxis verhandelt werden, welche die neuen – eben ›elektronischen‹, vielleicht gar ›digitalen‹ – Klangtechnologien radikal zum eigenen ästhetischen Mittelpunkt erklären. Afrika Bambaataa in der New Yorker South Bronx, Egyptian Lover in Los Angeles, 2 Live Crew in Miami – Missy Elliott hätte andere Referenzpunkte wählen können, um sich eindeutiger in einem kanonischen HipHop-Kontext zu positionieren. Statt dessen lässt sie auf »Lose Control« eben das ikonische Arpeggio aus Cybotrons »Clear« ohne Unterlass über ein prototypisches 808-Drum-Pattern kreiseln. Boom und Clap Boom und und Clap und. Sonst nichts.

Auf Cybotrons 1983er Track »Clear« passiert da noch ein wenig mehr. Die 808-Kick spielt das gleiche Muster wie bei Missy Elliott, Snare, offene Hat und der Clap klatschen gemeinsam den Backbeat. Eine geschlossene Hat punktiert die Sechzehntel bei Eins und Drei. Nach zwölf Takten erhebt sich auch darüber das besagte Synth-Arpeggio, windet sich stetig chromatisch in die Höhe und entkommt doch nie dem Gravitationsfeld der TR-808. Die chromatischen Schritte aufwärts werden durch ein moduliertes Delay geführt und scheinen so nie zu enden und doch immer wieder von vorne beginnen zu müssen. »Clear …« Juan Atkins bassige Stimme wird via Pitch-Shifting im Register verschoben. »Clear all this space …« Swoooosh-Laute zischen immer wieder links und rechts an dem Kreisel aus Drum-Pattern und Arpeggio vorbei. »Clear today …« Ein tieffrequenter Bass-Sound erdet alle zwei Takte die Eins.

Cybotrons »Clear« ist eine Hymne dieses noch so uneindeutigen Proto-Genres Electro. Juan Atkins und Rick ›3070‹ Davis liefern damit das Detroiter Pendant zum kanonischen »Planet Rock« von Afrika Bambaataa & The Soul Sonic Force. Beide Tracks funktionieren nach dem gleichen Prinzip, die Drum-Pattens ähneln sich im hohen Maße, beide bedienen sich herrlich unbedarft an Songs desselben Kraftwerk-Albums. Arthur Baker samplet für »Planet Rock« den »Trans Europa Express«, das Synth-Arpeggio von »Clear« wiederum, drehte ähnlich bereits in Kraftwerks »Spiegelsaal« seine Runden. Aber anstatt, dass hier Kraftwerk als irgendwelchen väterlichen Gründerfiguren gehuldigt würde, höre ich diese zwei Tracks selbst als mittlerweile längst mythische Lieder auf genau solche Gründungsmomente. »Planet Rock« entwirft HipHop als soundkulturelles Weltraumprogramm. »Clear« nimmt die avantgardistische Tabula-Rasa-Geste von Techno vorweg. Die Rede von Electro markiert genau diesen kurzen, unentschiedenen Moment, bevor die futurhythmatische Prädiktion eingelöst wird.

Electro markiert aber vielleicht noch etwas anderes. Eine weitere, unterschwellige Verbindung der beiden Tracks im Speziellen und des amorphen Electro-Kontinuums im Allgemeinen. Elektro(nik) schaltet auch die Rhythmus-Spuren dieser Produktionen. Electro und dessen Ausdifferenzierung in House, Techno, HipHop und kaum überschaubare weitere Teilstränge werden in den frühen 80er Jahren dabei vor allem von einer Maschine am Laufen gehalten, die bis heute den Inbegriff klassischer analoger Rhythmus-Elektronik vor der Übernahme digitaler Real Drums ausmacht: der Roland TR-808.

Ich höre noch einmal Missy Elliotts »Lose Control«. Wie auf »Clear« oder »Planet Rock« meine ich auch hier eine 808 zu hören. Die bauchige, tieffrequente Kick-Drum, der klassische Hand-Clap. Und trotzdem kann ich überhaupt nicht sicher sein, dass das wirklich eine 808 ist, das Gerät an sich – oder nicht ein Sample Pack, eine Software-Emulation oder eine ähnlich klingende Drum-Machine. Als Missy Elliott den Track »Loose Control« 2005 veröffentlicht, ist ›die 808‹ längst sehr viel mehr als ein einfaches Hardware-Ding. Aufgeputscht von dem brüllenden Fatman Scoop denke ich: ›Die Maschine ist eine rhythmaschinische Epochenschwelle.‹ Missy Elliott beginnt jetzt zu rappen: »beat staller, tail dropper / do ma thing motherfuckers …« Ich habe eigentlich immer beat scholar verstanden und finde das nach wie vor eine treffende Zeile. B-Girl Miss-E ist offensichtlich eine Beat-Forscherin, ein breakbeat scientist, wenn sie in ihren Produktionen klangarchäologisch immer wieder solche soundkulturellen Epochenschwellen präzise herauspräpariert.

Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.

Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 267-270.