Shuggie Otis – Pling! / Maestro Rhythm King
»Just to find the kind /
Shuggie Otis, »Happy House«, LP Inspiration Information, CBS Records 1974.
of another time /
down the road a bit /
I’ve been walking it«
Die Nadel rutscht in die Rille. Es prasselt. Der vorletzte Track der B-Seite wurde oft gespielt. Das ist deutlich zu hören. Jeder Durchlauf hat seine subtilen elektrostatischen Spuren hinterlassen. Ohne Vorwarnung setzt mitten in den Knisterteppich hinein ein Drum-Pattern ein. Einfach so, als würde alles schon eine ganze Weile laufen, startet der Track auf der 3-und einer langsamen 6/8-Figur. Kick- und Snare-Drum markieren der Ordnung halber die Viertel; die Schläge 2 und 3 füllen Toms und Maracas mit seltsam geraden Sechzehntel-Noten und durch alles hindurch tänzelt eine verhallte Clave-Figur auf einem Stick gespielt. Wobei man Kick, Snare, Stick nicht allzu wörtlich nehmen sollte, denn mit einem klassischen Drum-Set hat das hier nicht mehr viel zu tun. Die Drums auf Shuggie Otis’ »Pling!« von dessen 1974er Album Inspiration Information sind gar keine. Hier schwingen keine Felle oder Hölzer, sondern Oszillatoren. Und dieses 6/8-Pattern in seiner geradezu hypnotischen Langsamkeit ist kein Ergebnis psychedelischer Entschleunigung menschlichen Trommelspiels, sondern schlicht der auf minimalen Anschlag gedrehte Tempo-Regler einer Rhythm King Drum-Machine der Firma Maestro.
Nachdem der Rhythm King zwei Takte weitgehend für sich alleine vor sich hin getrottet ist, setzt nur zögerlich ein in tiefer Lage gespieltes E-Piano ein. Es kreist um ein paar schwebende Sept-Akkorde, deutet sie erst nur durch wenige Noten an, um sie dann immer mehr auszufüllen, windet sich über einen zweiten Part ein Stück nach oben, um schließlich in eine Variation des ersten zurückzukehren und diesen über die ganze Breite der Klaviatur aufzufächern. Wie Nebel breitet sich das E-Piano über dem Drum-Pattern aus und faltet so nach und nach einen Klangraum auf, der – paradoxerweise – mit jeder weiteren Öffnung immer enger wird. Schon die ersten, tiefen Noten sind von einer kaum zu durchdringenden Dichte. Schwebung und Tremolo lassen sie taumeln und allmählich in jede freie Spalte des Frequenzspektrums hineinwabern. Ein zweites Mal durch den B-Part. Es wird immer enger. Die Luft bleibt weg. Bei 1:28 muss jemand husten. Kurz darauf, mit der abermaligen Rückkehr in den Hauptteil zerbirst diese schimmernde E-Piano-Klangblase wie ein angestochener Luftballon – ›Pling!‹ – und verteilt sich gasförmig zwischen flirrenden Harfen und langgezogenen Bläserfäden. Aber das Spiel beginnt noch einmal von vorne. Enge – Ausdehnung – und knapp drei Minuten dann endgültige Entladung. Luftige Chöre und Glockenspiel, Orgel und Harfen-Sprenkel verwirbeln in alle Richtungen, dazwischen ein Saxophon, das dem Ganzen erst nachträglich ein Thema gibt. Nach über vier Minuten verebbt sachte der Soundnebel. Einzig der Rhythm King läuft unbeirrt seine Runden und vielleicht erst jetzt bemerkt man, dass er die ganze Zeit da war. Fade out …
Was will dieses »Pling!« sein? Die obige Beschreibung klingt hinter der üblichen Sonic Fiction-Rethorik ziemlich traditionell. Aufbau von Spannung und deren finale Auflösung, als fiele der Musikgeschichte einfach nichts besseres ein. Doch um die pathetische Kadenzierung menschlicher Gefühlswallungen geht es hier nicht mehr eigentlich. Eher vielleicht um eine Art Fender Rhodes/Rhythm King–Experimentalsystem, das die Dynamik klanglicher Aggregatzustände erforscht. Vor allem aber ist »Pling!« kein Pop-Song (– obwohl die Aufteilung in A- und B-Parts sowie den Quasi-Chorus sich noch alle Mühe gibt, den Anschein zu wahren). Vielmehr entwirft Shuggie Otis hier eine prototypische Version von Track-Musik, wie sie später bei Jochen Bonz und Johannes Ismaiel-Wendt beschrieben werden wird. Und das heißt auch: Er entwirft eine andere Organisation musikalischer Zeit.
Shuggie Otis hat den Tempo-Regler seines Rhythm King weit herunter gedreht, um genug Zeit zu haben, mit genau dieser zu spielen. Die Funkbox läuft in Slow Motion, spreizt die Flanken ihres Clock-Pulses weitestmöglich auf, um das E-Piano langsam darin einsickern zu lassen. Gleichzeitig lässt diese beinahe übertrieben Langsamkeit die unterschiedlichen rhythmischen Ebenen des Rhythmus-Patterns einander wie in Wellenbewegungen überspülen. Mal schwappt das Sechzehntel-Gerumpel von Toms und Maracas nach oben, dann wird es wieder von der halligen Clave bedeckt, bevor schließlich der Backbeat aus Kick und Snare darüber stürzt und eine Gischt aus 6/8-HiHats aufschäumen lässt.
Shuggie Otis’ Umgehen mit dem Rhythm King ist Engineering, aber nicht mehr im Sinne einer technizistischen Gründung musikalischer Praxis in axiomatischen Gesetzmäßigkeiten, wie wir es bei Joseph Schillinger oder Raymond Scott entworfen gefunden haben. Sondern ein genuin sensorisches Engineering, im Sinne Kodwo Eshuns via Rolf Großmann:
»›[S]ensory engineering‹ (with Kodwo Eshun) is an open, experimental and dynamic practical knowledge of direct affection (Affizierung). […] [It generates] a new epistemic situation: the knowledge of designing the rhythmic ›feel‹ of a song or track; its ›swing‹, ›off-beat‹ and ›groove‹ diffuses into the mechanical grid of technical equipment and its control.«
Großmann, Rolf (2014): »Sensory Engineering. Affects and the Mechanics of Musical Time«. In: Marie-Luise Angerer/Bernd Bösel/Michaela Ott (Hg.): Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics. Zürich: diaphanes. S. 191-205. Hier: S. 192.
In dieser neuen epistemischen Situation, die Großmann hier beschreibt, ist ein spezifisches rhythmisches Wissen – ein Wissen um ›Feel‹ und ›Groove‹ – in die technische Dinge eingesickert, wie Shuggie Otis’ E-Piano-Chords in das Pattern des Rhythm King. Sensorisches Engineering lässt die Technizität jeder ästhetischen Praxis und die Ästhetizität aller technischen Prozesse in ihrem unweigerlichen Ineinandergreifen beschreibbar werden. Es kann dann, wie gesagt, nicht mehr um strenge Axiomatik (das Klischee der Ingenieurswissenschaft) gehen, sondern darum, die vielfältigen und diversen – technischen, ästhetischen, kulturellen, … – Wissensformen ernst zu nehmen und ihnen forscherisch Rechnung zu tragen. Sensorisches Engineering ist eine technoästhetisch Bastelei. Das Rhythmus-Pattern ist eine epistemologische Sickergrube.
Und: Shuggie Otis’ Umgehen mit dem Rhythm King ist Funk – eben in Tony Boldens Sinne einer spezifischen »kinetic epistemology« Der Groove der Maschine wird in aller Langsamkeit ausgewrungen, die Schläge werden bis kurz vor ihrem Zerbersten gedehnt, um experimentell herauszufinden, wie weit sich dieses Spiel treiben lässt, wie lange das ›Feel‹ dieses Grooves zusammenhält. Solche Fragen aber lassen sich per se nur sensorisch erforschen. An späterer Stelle werde ich darauf anhand von Tiger C. Roholts Groove-Begriff genauer eingehen. Zunächst genügt es festzuhalten, dass Funk als ›kinetische Epistemologie‹ genau jenem diffusen, eingesickerten rhythmischen Wissen nachspürt, welches auch Großmann beschreibt. Einem rhythmischen Wissen also, das gerade um Uneindeutigkeiten und Ambiguitäten kreist und diese kreisen lässt, ohne sie auflösen zu wollen. Sensorisches Engineering, technoästhetische Bastelei, ist sehr viel komplexer als ein wohlgeordneter algorithmischer Musikbaukasten. Und ich ahne bereits, dass auch dieses hypnotisch langsame Pattern bei Shuggie Otis gerade deswegen so funky ist, weil es eben uneindeutig bleibt, selbst keine Einheit ist, sondern ein Ineinandergreifen, ein Zusammenspiel, eine Kombination.
Ich schalte also den Rhythm King ein. Das ist jedes Mal ein wenig aufregend, es könnte ja etwas kaputt gegangen sein, seitdem er das letzte Mal gelaufen ist. Aber noch scheint alles zu funktionieren. Ein Netzbrummen ist zu hören, vielleicht ist das auch der Transformator. Ich wähle also ein Pattern aus, tippe auf das angeschlossene Pedal und der Rhythm King beginnt zu spielen. Viel zu schnell, das Tempo liegt irgendwo bei 100 BPM. Um herauszufinden, welche Einstellungen Shuggie Otis auf »Pling!« verwendet hat, drehe ich den Tempo-Regler immer weiter zurück. Aber auch das reicht nicht. Mit knapp unter 70 BPM immer noch deutlich schneller als der Track, der selbst nur mit gemächlichen 56 BPM läuft.
Shuggie Otis muss also eine Rhythmus-Spur aufgenommen und anschließend die Bandgeschwindigkeit verringert haben. Daher dann auch dieser etwas dumpfere und drückendere Sound vor allem der Snare. Überhaupt der Sound: Auf der Platte klingt es, als wurde der Rhythm King für die Aufnahme erst durch einen Gitarren-Amp oder ähnliches geschickt und dann per Mikrophon abgenommen. Auch das verwendete Pattern habe ich noch nicht gefunden. Der »Slow Rock« läuft passend auf 6/8 mit Kick- und Snare-Drum auf den Vierteln. Aber das ist noch nicht alles, was bei Shuggie Otis passiert.
Ich klicke mich nach und nach durch die Presets, aber nichts entspricht den Drums auf der Aufnahme. Erst als ich den »Slow Rock«-Taster gedrückt halte und zusätzlich die »Rumba« auswähle, passt plötzlich alles zusammen. Weil der Slow Rock den Time-Point-Generator des Rhythm King in 6/8 pulsen lässt, funktioniert die 4/4-Rumba auf einmal ganz anders. Deswegen hatte es natürlich auch nie geklappt, das »Pling!«-Pattern aus Audioloops der Rhythm-King-Presets zusammenzubauen. Zwei gemeinsam gedrückte Presets addieren sich nicht einfach, sie erzeugen eine neue Verschaltung der Logik-Matrix, ein ›drittes‹ (im Serres’schen Sinne) Pulsmuster. Noch mal also: Maschinische Heterochronizität. Ich löse die beiden gedrückten Taster. Jetzt läuft nur noch der Time-Point-Generator weiter und das Pulsmuster ist deutlich auf dem Ausgang zu hören. Ist das jetzt ›[techno-]sonic tempor(e)ality‹ an und für sich? Ich weiß es nicht, lasse aber die Maschine noch etwas laufen. Keep that funky groove going …
Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.
Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 239-243.