Miles Davis – Agharta (LP)
Miles Davis und sein elektronisches Septett in Japan. 1975 in Osaka, auf dem Höhepunkt dieser futurhythmatischen Phase, in welcher Jazz-Größen wie Miles Davis alle albern virtuosen Fingerübungen, alle so altbacken harmonisch-melodisch durchbuchstabierten Ideen von Komplexität hinter sich lassen und – endlich – funky werden. Back On The Corner. Dazu James Mtume:
»At the time Miles was listening to a lot of James Brown, Sly Stone, Jimi Hendrix, and George Clinton, and that’s what he wanted to put together. Miles’s idea was to get back to the root of the music – to the funk, but to funk with a high degree of experimental edge. He wanted to take it much further.« (James Mtume zit. n. Tingen, Paul (2001): Miles Beyond. The Electric Explorations of Miles Davis, 1967-1991. New York: Billboard Books, S. 130).
Mit einem lose dahin gesprenkelten Groove aus der tiefen Lage seiner Yamaha-Orgel heraus eröffnet Miles Davis ohne jede große Geste das »Prelude To Agharta«. Das Konzert wird ein Jahr später als Doppel-LP Agharta veröffentlicht werden. Al Foster an den Drums steigt sofort ein, tänzelt auf seinen Becken einen rockigen Backbeat entlang. Pete Cosey und Reggie Lucas schrammen mit ihren zackig-zerrenden Rhythmus-Gitarren die beiden Enden des Stereo-Panoramas auf. Am Bass wartet Michael Henderson ein, zwei Takte, übernimmt dann auch die Groove-Skizze der Orgel und breitet sich gemächlich darunter aus. Das Ganze läuft eine Minute lang – und stoppt dann, bei ca. 1:30 auf dem Downbeat, um Platz zu schaffen für einen Schwung an Dissonanz aus Miles Davis’ Orgel. Wie flüssiges Metall gießt der eine zerrende Klangfläche in die Leerstelle hinein.
»The breaks, or total stops, which Miles commanded with a simple movement of his head or hand, were dramatic and highly effective as pivots around which this tension release structure was organized. Agharta alone contains about fifty such stops. The band continuously expands and contracts in and out of these tension-release passages, alternating wild climaxes with tender, almost completely quiet sections.« (Tingen, Paul (2001): Miles Beyond. The Electric Explorations of Miles Davis, 1967-1991. New York: Billboard Books, S. 163).
›On and Off‹. Die elektrifizierte Jazz-Band wird selbst eine Groove-Maschine, die sich per schlichtem Nicken an- und wieder abschalten lässt. Funky as funky can get. Hier geht es längst nicht mehr um musikalisches Heroentum, das sich in luftigen Höhen schwindelerregende Fortschreitungen entlang hangelt. Hier werden keine virtuosen Heldengeschichten mehr erzählt. Stattdessen erkundet die Band als Maschine die Proto-Digitalität des Groove: Das Ding läuft – oder es läuft nicht. An und Aus. Zwei Zustände. Mit dem Arrangeur Paul Buckmaster arbeitete Davis’ an den Ideen für das Album On The Corner, auf dessen Cover genau dieses binäre Konzept – ›On and Off‹ – die Vorder- und Rückseite besetzt. Buckmaster:
»I said something to Miles like, ›Things are either on or off. Reality is made of a sequence of on and offness.‹ A crazy idea. […] So I was talking to Miles about ›street music‹ with the cosmic pulse going on or off.« (Paul Buckmaster zit. n. Tingen (2001), S. 132).
Ich springe noch einmal zurück. Höre noch einmal das Stoppen der Band und Davis’ so technoid kreischende Orgel, die sich in die Lücke gießt. Gute zehn Sekunde reißt er damit ein Loch in den Groove hinein, dann schaltet er die Band zurück auf ›On‹. Und dabei schaltet sich eine weitere Maschine ein: Mitten in den Groove hinein, der zurück ist, als sei nichts gewesen, lässt der Percussionist James Mtume das hektische Klackern einer Rhythmus-Maschine aufbranden. Dabei macht er allerdings keinerlei Anstalten, das Pattern der Maschine in das Grooven der Band einzufügen, sondern lässt es bei hoch aufgedrehtem Tempo-Regler immer wieder in deren Spiel hineinrasseln. Wenn bei Kodwo Eshun die Drum-Machine keine Drum-Machine ist, dann demonstriert Mtume hier, dass auch die Rhythmus-Maschine nicht zwangsläufig eine Rhythmus-Maschine ist. Anders als bei Sly Stone, der ja einer der zentralen Stichwortgeber für Miles Davis’ funky Experimente in den frühen 70er Jahren war, wird hier nicht mit und um die Maschine herum gegroovt. Gerade andersherum wird die Maschine gegen den Groove laufen gelassen. Sie schwappt daran immer wieder empor, um dann unter anderer Percussion und zerrenden Gitarren-Fetzen zu verschwinden. Durch den unbekümmerten Dreh am Tempo und eine klassische mixadelische Effekt-Kette transformiert Mtume die Pattern seiner Rhythmus-Maschine in abstrakte perkussive Texturen, die er auf, neben und zwischen dem Grooven der Band ausbreitet:
»We were in experimental mode, so instead of using it to create rhythm I wanted to see whether I could use it to create texture. I played it through six or seven different pedals, phase shifters, wah-wah, and biphase mutrons and so on, while pressing down three or four rhythms at the same time. I’m also using a volume pedal, so I’m bringing the sounds in and out. It was total tapestry. Unless you were told, you’d have no idea that you heard a rhythm machine.« (James Mtume zit. n. Tingen (2001), S. 164).
In den leisen Stellen des Intros des letzten Tracks der CD-Version – dem fälschlich als »Theme For Jack Johnson« Teil, der eigentlich vor allem auf einem Groove des Stücks »Ife« basiert – finden sich solche Stellen, an denen Mtume die polternden Patterns zur Textur-Synthese aufbohrt. Wieder so ein mehrmals aussetzender oder zumindest zurückgeschraubter Groove. Bei 0:40 beginnt Pete Cosey im linken Kanal mit seinem EMS Synthi A dissonante Cross-Modulation-Sounds zu spielen. Bei ca. zwei Minuten antwortet ihm im rechten Kanal ein schnell pulsender Filter-Sound, der an und wieder abschwillt. Das muss Mtume sein. Das Hochgeschwindigkeits-Rattern seiner Patterns lassen das Filter-Pedal wie einen quäkigen Rotor klingen. Die Band-Maschine setzt noch einmal ganz aus und Cosey lässt den Synthi A klirren. Bei ca. drei Minuten ist der Groove langsam wieder da und James Mtume spielt die Rhythmus-Maschine jetzt am Filter vorbei. Klangsynthese an der Preset-Schleuder. Die Band als Maschine. Die Maschine als groovende Textur. Alles verschwimmt.
»Jazz Fission dissolves the border between mute and trumpet, wah-wah and organ, effect and instrument. Psychedelic Jazz derealizes sound into hornets and quasars. Cosmic jazz is unease, the monstrous deliquescence of the mixing desk.« (Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant than the Sun. Adventures in Sonic Fiction. London: Quartet Books, S. 1)
Bleibt noch die Frage, welche Maschine Mtume hier in den Band-Verbund einschaltet. Bei Paul Tingen erinnert er sich, die Tour in Japan sei damals von Yamaha gesponsert worden. Die Firma hätte ihm deswegen 1973 eine erste ›Drum-Machine‹ zur Verfügung gestellt. Aber auch Erinnerungen verschwimmen manchmal. Timothy Booth weist deswegen darauf hin, dass Yamaha in den 70er Jahren noch keine Standalone-Rhythmus-Maschinen angeboten habe, und geht stattdessen davon aus, dass Mtume eine Korg Minipops 3 benutzt. In den zahlreichen Video-Mitschnitte von Miles Davis elektronischen Konzerten der 70er, die sich mittlerweile im Internet finden, konzentriert sich die Kamera meist auf den Bandleader, auf Dave Liebman oder die Gitarristen Cosey und Lucas. Mtume ist selten gut zu sehen. Nur in einer kurzen Einstellung eines Konzerts in Montreux von 1973 sehe ich ihn direkt an der Rhythmus-Maschine stehen, die er neben seinem Percussion-Setup aufgebaut hat. Nur die Seite ist zu sehen. Die aber sieht eindeutig nach dem länglichen, vorne angeschrägten Kofferformat der Minipops 3 aus. Im Hintergrund ist in all der VHS-Unschärfe Miles Davis’ an der Orgel zu erahnen.
An meiner Minipops 3 stelle ich einen einfachen Backbeat ein. Kick auf Eins, Snare auf Zwei. Den Tempo Regler drehe ich auf die langsamste Stellung, das Pattern spielt mit gemächlichen 60 BPM. Immer weiter drehe ich den Regler auf. Schon auf halber Stellung rast die Maschine deutlich schneller als alle anderen, die ich kenne. Bei voll aufgedrehtem Tempo schneide ich einen Loop aus dem Backbeat-Pattern. Ableton Live gibt dafür eine Geschwindigkeit von 469 BPM an. Was haben die Entwicklerinnen bei Korg mit solchen Tempi vorgehabt? Haben sie für Mtume und all die kommenden Rhythmaschinistinnen bewusst eine Hochgeschwindigkeits-Pattern-Synthese-Maschine gebaut? Solche Geschwindigkeiten taugen nicht mehr zur bloßen Begleitung einer Band-Performance. So oder so, Henry Cowells Idee, Rhythmus maschinisch in Timbre und Tonalität übersetzen zu können, wird von Mtume an der Minipops noch einmal voll aufgedreht. Aber der Maschinen-Jazz-Jam beerbt nicht einfach die avantgardistische Behäbigkeit des Rhythmicon. Andersherum war vielleicht das Rhythmicon nur ein erster Testlauf für dieses Einschalten der Maschine in und gegen den Band-Groove. On and Off.
Ich schalte noch einmal die Minipops 3 ein, wähle ein Bossa Nova-Pattern und lasse es laufen. Wieder beschleunige ich das Geklicker soweit es geht. Das Pattern an sich ist schnell nicht mehr zu identifizieren, die Clave-Figur und die ratternden HiHats scheinen auseinanderzulaufen. Den rasenden Bossa führe ich durch ein Stereo-Delay, moduliere ein wenig die Delay-Zeiten und die Filter der beiden Kanäle. Nach und nach wähle ich andere Kombinationen aus den Presets der Maschine aus. Die einstigen Rhythmus-Patterns rattern jetzt auf der uneindeutigen Grenze zwischen Percussion und Sound-Effekt hin und her. Die Futurhythmaschine hat wieder einmal ihre Gestalt gewandelt, ist eine andere geworden. Funkmaschinische Heterogenese.
Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.
Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 220-224.