Ron Trent – Space Ridims
480ms. Soviel Zeit vergeht (mehr oder weniger genau) zwischen zwei Schlägen der 909-Kick-Drum, mit denen Ron Trent den Track »Space Ridims[sic!]« von 1994 eröffnet. Vier Takte lang hämmert sich deren massiver Sound auf den Vierteln in meinen Kopf hinein. Bumm, Bumm, Bumm, Bumm. Dazwischen – wieder und wieder – 480ms. Keine Stille natürlich. Die Kick-Drum wabert insbesondere in den tiefen Frequenzen weit in dieses Intervall hinein. Und auch sonst ist immer etwas zu hören. Netzbrummen, das irgendwoher stammen muss. Vielleicht von der erstmaligen Aufnahme des Tracks in den 90er Jahren? Oder doch von der nachträglichen Digitalisierung für die Wiederveröffentlichung? Ich höre den Track als Teil des großen Label-Werkschau-Box-Sets Ron Trent presents Prescription. Word, Sound & Power. Nach vier Takten kommt ein weiterer tieffrequenter Sound auf jeder 2-und dazu. Er klingt etwas höher als die Kick. Wahrscheinlich eine tiefgestimmte Low Tom, der mittels Equalizer im Mischpult das Höhenband dicht gemacht wurde. 1 – 2 und 3 – 4. Im rechten Kanal meines Kopfhörers ist jetzt auch ganz leise ein klappriger Sound zu hören, der jede 4-e und die folgende 1 spielt. Vielleicht ein Rimshot, dessen Fader nicht ganz schließt. Ziemlich egal und ohne Kopfhörer sowieso nicht zu hören. Aber es bleiben eben diese 480ms, die hörend gefüllt werden wollen.
Space Rid(d)ims. Hier geht es gar nicht um irgendeinen fernen Outerspace, sondern um den Riddim als (sonic) Spacing, als klangliche Eröffnung von Raum. Diese Kick-Drum ist kein einfacher zeitlicher Gleichrichter, der den chaotischen Fluss kanalisieren und schnurgerade in eine Richtung laufen ließe. Jeder Einschlag hinterlässt Wellen auf der nur scheinbar glatten Oberfläche der Zeit, erzeugt kleine Verwirbelungen und Strudel. Beinahe zwölf Takte läuft das Ganze mittlerweile, da dreht Ron Trent bei 4-und den Volume-Regler der HiHats auf seiner TR-909 hoch. Das etwas zu langsame Aufdrehen des Potis ist deutlich hörbar. Die erste offene Hat, die – natürlich! – die 4-und besetzt, schummelt sich gerade noch so durch. Nur eine – per Swing-Regler großzügig gedehnte – Sechzehntel dahinter eine weitere geschlossene Hat. Und dann geht alles on the one von vorne los. Alle 480ms schrauben die Hats jetzt einen kleinen Zeitstrudel zwischen zwei Kick-Drums.
Diese Strudel gewinnen weiter an Sog, dehnen sich aus in den Takten 19 und 20. Ein kurzes, rhythmisches Delay auf den Hats lässt diese kreisend immer weiter anschwellen. Bevor sie aber über den Rand des Kick-Drum-Stakkato herüberschwappen können, dreht Ron Trent im folgenden Takt alles wieder zurück. 1 – 2 und 3 – 4. Vier Takte weiteres Solo für die Kick. Dann sind die Hats zurück. Ein Clap kommt dazu und beklatscht den Backbeat. Wieder acht Takte später, eine leise Figur auf der hohen und mittleren Tom, die auch den Bereich der unteren Mitten auffüllen und zu grooven beginnen lassen. Noch einmal die Hats durch’s Delay geschickt und dann – ohne mit der Wimper zu zucken – nach beinahe anderthalb Minuten der scheinbar überhaupt erste tonale Sound des Tracks. Zwei einfachste, nur kurz angespielte Synthie-Chords, die sich zwischen den Off-Beats tänzelnd unter einem Filter weg ducken und wiederum durch ein Delay rhythmisiert werden.
Und dabei bleibt es. Es kommen zwar immer wieder, kaum merklich, weitere Elemente dazu – aber das Prinzip bleibt. Space(ing) Riddims. Ein kurzer Shaker taucht auf, der von einer anderen Drum-Machine stammen muss. Später eine weitere offene Hat (könnte eine TR-707 sein). Eine zweite, zwitschernde Synthie-Figur wird immer prominenter. Irgendwann beginnt eine geradezu ›natürlich‹ klingende Snare die Vier zu markieren und übermütig gar einen kurzen Roll zu spielen. Nach beinahe sechs Minuten schließlich kippt alles einfach nach links und sinkt langsam in den Fade-Out hinein.
Ron Trents »Space Ridims« sind eine Form rhythmatischer Architektur, die in ihrer Schlichtheit besticht, die ihre Konstruktionsprinzipien offen hörbar darlegt und die eigene Technizität feiert. Kling das nach Klischee? Natürlich, aber diese sprichwörtlichen geraden Linien sind eben nicht alles. Sie bilden nur das Gerüst, in das hinein die Space Ridims sich erst auswölben. Gerade Linien und Four-To-The-Floor sind keine Begradigungen – sie spannen Zwischen-Räume auf, in denen der Blick wie das Hören zirkulieren gelassen wird.
Plötzliche Assoziation: Iannis Xenakis’ berühmte Fassade für das Le Corbusier Kloster Sainte-Marie de la Tourette bei Lyon ist auch eine Art architektonischer Rough-Mix solcher Space Riddims. In der Verteidigung seiner These 1976 sind sich der Doktorand Xenakis und sein Prüfer Michel Serres uneins über die grundsätzliche Möglichkeit, Zeit als reversibel zu denken. Serres möchte offensichtlich auf sein Konzept einer lokalen Reversibilität bei globaler Irreversibilität hinaus, aber Xenakis steigt nicht ein, hält an einem strikt thermodynamisch Richtung Entropie marschierendem Zeit-Begriff fest.
»Iannis Xenakis: […] Time itself is not reversible; I insist upon that. […]
Michel Serres: The first proposed theorem in physics was about vibrating strings. Isn’t a vibrating string a reversible phenomenon?
Iannis Xenakis: Outside time positions are reversible.
Michel Serres: What do you call outside-time positions? I don’t understand.
Iannis Xenakis: Spatial intervals, for example, string positions. They are reversible because the belong to space, which is not temporal.
Michel Serres: Therefore it’s a clock!
Iannis Xenakis: Therefore it’s a clock!
Michel Serres: In fact, a clock, like a vibrating string, counts time. A vibrating string can be a time index. It’s measurement.«
Iannis Xenakis und Michel Serres zit. n. Xenakis 1985, S. 72
Space Riddims, Riddims/Rhythms als Spacing besetzen – indem sie selbst ein Dazwischen öffnen – genau eine Zwischenposition in dieser Uneinigkeit zwischen Serres und Xenakis. Aus Xenakis’ Sicht könnten wir sie als Verräumlichungen hören, die aus dem stetigen Zeitverlauf ausgestülpt und somit reversibel werden. Aus Sicht von Serres wiederum sind es die mikroskopischen Strudel und Verwirbelungen, das irreduzible Chaos, das an den Rändern noch jeder (zeitlichen) Ordnung nagt.
Ich setze die Nadel noch einmal an den Beginn des Tracks zurück, höre ihn jetzt laut aufgedreht über die Lautsprecher – und lese dazu folgende Passage bei Serres, die auf einmal (wieder einmal) anders klingt:
»This is perfectly general: every sound, every signal, is in the domain of periodicity. Thus of the repetitive, of reversibilty. The measure that ceaselessly repeats, rhythm, these are returns. The clock or the metronome’s pendulum recaptures its fall, it too vibrates. Even the various styles of writing and compositional techniques. Coda, double bar and repeats, voice and countervoice, point and counterpoint. Music is an irreversible saturated, swollen, dense with the reversible. It descends but restrains its descent, it traces a path of the smallest slope. Its time is directed from the past into the future, but its time is that of the return.«
Serres 2000, S. 151, (Herv. i. O.).
Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.
Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 342-345.