Herbie Hancock – Textures
Die Linernotes zu Herbie Hancocks 1980er LP Mr. Hands lesen sich wie eine kleine Bestenliste des Jazz im Zeitalter seiner allseitigen Fusionierbarkeit. Jaco Pastorius spielt Bass auf »4 AM«, Ron Carter auf »Calypso«. Sheila ›E.‹ Escovedo steuert Percussion zu mehreren Songs bei. An den Drums wechseln sich Tony Williams, Alphonse Mouzon, Leon ›Ndugu‹ Chancler sowie Harvey Mason ab, der Drummer aus Hancocks berüchtigter 70er Band The Head Hunters. Auf dem letzten Song »Textures« aber, so verkünden die Liner Notes, spielen keine anderen Musiker*innen außer Herbie Hancock selbst. Und noch etwas verraten die Liner Notes: Neben einer zeitgenössisch ersten Wahl an Synthies – Sequential Circuits Prophet 5, Arp 2600, Yamaha CS-80, etc. – und einem ›Modified Apple II Microcomputer‹, spielt Hancock auf diesem Album einen ›Linn-Moffett Drum Synthesizer‹.
Nach der illustren Folge berühmter Drummer vermute ich nun auf »Textures« genau diesen Linn-Moffett Drum Synthesizer zu hören. Der Song beginnt mit einer kurzen, gedoppelt aufgenommenen und dadurch leicht schwebenden Synthie-Bassfigur. Vier Takte, dann setzt völlig unaufgeregt ein ebensolcher Drum-Loop ein. Kick auf Eins und Drei. Snare auf der Vier und um ein ungeduldiges Sechzehntel vor die Zwei gezogen auf 1-und-e. Diese Drums, das fällt mir auf, klingen ungewöhnlich trocken. Es gibt kaum Raum auf der drückenden Snare. Ein wenig mehr vielleicht noch auf den Hats und dem Shaker, die je links und rechts gepanned das Stereopanorama besetzen. Gerade im Panorama gehört, wird besonders deutlich, wie sehr die einzelnen Trommelinstrumente voneinander getrennt stehen bleiben. Keine Übersprechung zwischen Mikrophonen, kein gemeinsames Overhead. Kurz: Es gibt keinen gemeinsamen Ort dieser Drums, keinen vorgängigen akustischen Real-Raum, in dem dieses Drum-Set spielt.
Ich höre immer noch diesen Drums nach, während inzwischen längst ein weiterer Synth-Sound hinzugekommen ist. Er klingt entfernt nach einem Saiten-Instrument. Irgendwo zwischen einer synthetischen Gitarre und einem weich klingenden Clavinet, deutet er ein kleines Arpeggio über der Bassfigur an. Ein Jazz-Piano breitet kurz darauf ein paar Akkorde darunter aus. Das alles geht langsam gefährlich in Richtung Easy-Listening-Gefälligkeit. Aber wem wollte Herbie Hancock jetzt, 1981, auch noch irgendetwas beweisen?
Immer weitere Spuren kommen hinzu. Herbie Hancock webt nach und nach seine »Textures« zwischen die weit auseinander stehenden Fäden des LM-1-Drum-Loops. Mit dem schwer zu entwirrenden Funky Drumming von Harvey Mason auf dem vorausgehenden Song »Shiftless Shuffle« hätte das schlicht so nicht funktioniert. Hancocks Synthesizer-Web-Arbeiten verlangen nach genau so einem stabilen, einfachen Grundschema, in das sie sich hinein flechten können. Ein monophoner Synthesizer übernimmt jetzt eine Art Lead-Stimme und führt das insgesamt etwas vorhersehbar gewordene Muster einen um mehrere Ecken modulierten Umweg entlang. Als wäre auch sie kurz aus der Bahn geraten, beginnt die Snare auf einmal die gerade Zwei zu schlagen; aber nur für einige Takte, dann rutscht sie wieder eine Sechzehntel davor. Ansonsten läuft das Drum-Pattern stoisch seine Runden. Der Synthie schraubt sich derweil in die Höhe, ein Chor setzt ein. Es geht wieder runter – und plötzlich: Erinnerungsblitz! Ich kenne diese Platte. Oder umgekehrt: Diese Platte (er)kennt mich.
»[W]hen you hear that sound that you love, when you hear the recognizable sample in the middle of alien sound, that sound is recognizing your habitualness, and it’s really incredible, you suddenly get a glimpse of yourself as a habitform, as a habitformed being, a process of habit formation. […] These are new sensations which have never existed before, that feeling of being recognized by sound. That’s new, it hasn’t happened before. By definition, it could only happen in the sampladelic generation; by definition it could only happen to people who listen to sampladelic music.«[1]
Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant than the Sun. Adventures in Sonic Fiction. London: Quartet Books. S. 190/91.
Es ist nur ein Zweitakt-Schnipsel, aber er reißt mich sofort aus dem fein gewebten Hancock-Zusammenhang heraus. Das kurze Arpeggio, ein paar Synth-Noten, dazu diese Drums. Ich bin bereits von anderer Stelle vertraut mit genau dieser Textur, ohne auf die Schnelle sagen zu können, woher. Wie in Kodwo Eshuns so treffender Beschreibung ist es Hancocks Stück, das mein Hören in einen anderen, zweiten Kontext verschiebt – nicht andersherum. Das Rätsel ist allerdings in wenigen Sekunden gelöst. Whosampled.com verrät mir (oder: erinnert mich daran, was ich noch nicht wusste), dass der HipHop-Beatmaker Knxwledge das Stück von Herbie Hancock für den Track »knxsleep[TWRK]« von 2015 gesamplet hatte. Er hatte die zwei Takte ausgeschnitten, geloopt und kurzerhand mit einem Acapella des Rappers Wiz Khalifa versehen. Das ganze fand sich dann auf Nummer 7.5 von Knxwledges Wrap Taypes-Reihe, einer laufenden Serie an Bootleg-EPs, auf denen er scheinbar schnell zusammengebaute, inoffizielle Remixe meist bekannter Rap-Tracks veröffentlicht. Auch »knxsleep« ist genau so ein Ding. Einfach zwei Takte Hancock im Loop, ein wenig verlangsamt auf 80 BPM statt den 86 des Originals, aber dank Ableton Lives Warp-Mode ist die Tonhöhe die gleiche wie im ursprünglichen Song. Der Bass ist angehoben, der Sound deutlich komprimiert, aber ansonsten frei von auffälligen Effekten. Außer dem Rap-Acapella ist nichts hinzugefügt.
Was mir am meisten auffällt: Dass mir die Drums bisher nicht aufgefallen waren. Knxwledge lässt einfach den LM-1-Loop laufen, fügt keine Sounds hinzu. Der Groove trottet gemächlich und durch die vorgezogene Snare etwas verstolpert die Synthie-Linie entlang. Für mich hatte das immer nach den typischen, mikrorhythmisch immer etwas gekonnt off-pointsitzenden HipHop-Drums geklungen. Wahrscheinlich sind es gerade die fehlende ›Live-Drums‹-Atmosphäre, der enge Raum, der programmierte Groove, die sich das Hancock/LM-1-Pattern aus den 80ern so nahtlos in einen HipHop-Track von 2015 hinein weben lässt.
Zurück in Herbie Hancocks Synthesizer-Geflecht höre ich das Drum-Pattern jetzt noch einmal anders. Hatte es zunächst geradezu unscheinbar gewirkt – nach all den virtuosen, hoch komplexen Groove-Entwürfen der berühmten Drummer, die ihm auf der Platte vorangegangen waren –, so beginnt es jetzt zu schillern, auch dank der Eshun’schen Erinnerungsblitze, die es nun unweigerlich durchzucken. Oder, noch einmal anders: Es werden immer mehr zeitliche Fäden hörbar, die in dieses Pattern hineinführen, die es aber zugleich immer weiter ausfransen lassen. Der nicht vorhandene akustische Ort dieser Drums bedingt auch ihre makro-zeitliche Nicht-Fixierbarkeit. Die Zeit dieser Drum-Sounds spielt sich (erstmal) nur auf der Ebene ihrer Sample-Rate ab. Alles weitere ist heterochrone Web-Arbeit.
Herbie Hancock ist mittlerweile längst wieder im Strophen-Part angekommen. Ein Mellotron-artiger Flötensound kommt hinzu, später dann wirklich etwas zu süßlich-klebrig geratene, synthetische Streicher. Aber viel interessanter als all die Sounds seines Synthesizer-Racks, die Hancock vorführt, ist es ohnehin, wie es ihm gelingt, mittels des simplen LM-1-Patterns die Fäden beisammen zu halten – um sie dann doch wieder auseinander laufen zu lassen.
Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.
Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 401-404.