Ron Hardy @ The Music Box
I don’t, I can’t, I won’t turn around. Immer wieder höre ich diese Passage aus einem Ron Hardy Mix, den ich auf youtube gefunden habe. Ron Hardy Live @ Music Box, Chicago 1986. House Music Himmelfahrt. Chicago Myth-Making in full effect. Ron Hardy schickt Teddy Pendergrass durchs Tape-Delay, spielt sich mit Archie Bell & The Drells die funky side of Disco entlang, nickt mit Rhythim Is Rhythim kurz Richtung Detroit und dann, nach nicht ganz zwanzig Minuten: Ein, zwei Wirbel auf einer viel zu verrauschten Snare, dann stampfen die Drums los und die ersten Synthie-Noten verraten schon, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt: »I Can’t Turn Around« von J.M. Silk (DJ/Producer Steve ›Silk‹ Hurley & Sänger Keith Nunnally). Die Soundqualität ist schrecklich, im linken Kanal scheppern völlig zerstörte Drums. Über einem straighten Four-To-The-Floor wirbeln Snare und HiHat. Der rechte Kanal scheint einen Wackelkontakt zu haben, manchmal öffnet sich das Stereopanorama kurz, bricht dann gleich darauf wieder weg. Und trotzdem: I can’t turn around.
Das hier ist noch nicht die offiziell veröffentlichte Version des Tracks von Ende 1986. Es muss ein früherer Edit sein. Wahrscheinlich auf Kassette aufgenommen und Ron Hardy in die DJ Booth gereicht. Marshall Jefferson: »Hardy never waited for the record, you gave it to him on cassette.« (Marshall Jefferson zit. n. Brewster/Broughton 2012, S. 259) Die Drums rattern völlig verzerrt weiter, darüber dreht sich das immer gleiche Pattern aus Bassline und Synthie-Lick jeden Takt im Kreis. Eine Stimme beginnt dazwischen offenbar eher improvisierte Textzeilen zu singen, die aber kaum zu verstehen sind und in all dem Scheppern untergehen. Ich bin nicht sicher, ob das auch Sänger Keith Nunnally ist, der die Vocals der späteren, offiziell veröffentlichten Version singt. Die Vocals klingen insgesamt viel weniger ausproduziert, eher wie eine kurze, schnelle Skizze. Eine Zeile aber ist bereits klar und deutlich: »I can’t turn around…«
Dann setzten nach ungefähr vier Minuten die Drums und der Lead-Synthesizer aus, es läuft nur noch die Bassline und eine zweite, sehr viel tiefere Stimme spricht, jetzt deutlicher zu verstehen obwohl mit einem kurzen Echo versehen:
»I’ve been watching you a long time baby. There’s one thing I got to say: Once I get you where I want you baby, there’s gonna be no turnin’ around. ‘Cause you know, once I get started, I ain’t gonna wanna stop.«
Mit einem langgezogenen Stöhnen setzen die Drums wieder ein. »Aaah, it feels so good.« Die Stimme wandert durch ein paar seltsam verstolpert wirkende Delays wieder nach oben und auf einmal hat sich auch der Ton geändert, der hier angeschlagen wird. »Your face is kinda sad, your breath is kinda bad, why don’t you turn around?« Eben noch gab es kein Halten mehr – und jetzt das? »Your shirt is pink, your armpits stink, why don’ you turn around?«
Die Stimme wendet sich ab, verschwindet wieder in unverständlichem Gestammel zwischen den Synthesizer-Sounds. Was war das? Eine kurze aber heftige Begegnung auf der Tanzfläche der Music Box? Die Stimme jedenfalls ist erstmal verschwunden, ein neuer Synthie-Sound taucht auf und beginnt etwas erratisch vor sich hin zu dudeln. Dann – plötzlich! – ein abrupter, völlig unerwarteter Wechsel: Zwei Takte klassischer Disco-Beat und dann setzen die Bläser zu Isaac Hayes Ur-Version von »I can’t turn around« ein, die hier schon die ganze Zeit als Ghost-Track im Hinterkopf mitlief. »No more empty days and lonely nights…« Ron Hardy steigt mitten im Original ein, schenkt sich das ganze soulige Geplänkel vorweg. »Cause you’ve changed my, my whole life around…« Das Tempo ist im Gegensatz zu Hayes’ Version auch angezogen, Ron Hardy wiederum war für seinen gerne radikalen Einsatz des Pitch-Reglers am Plattenteller bekannt. (Stevie Wonders »As« lief bei ihm auf sagenumwobenen +8.) Und gleich noch mal: »No more empty days and lonely nights…« Das Ding dreht sich im Kreis. It DOES turn around. Das muss einer der berüchtigten Tape-Edits sein, die Ron Hardy oder auch Frankey Knuckles auf Tonband angefertigt und im Club gespielt haben, um die besonders intensiven Passagen der Disco-Klassiker verlängern zu können. »Why don’t you turn around?« Bläser-Stabs und Tamburin kreisen immer weiter um diese super geraden In-The-Pocket-Drums. Isaac Hayes bleibt schwindelfrei. »Said, I won’t turn around…« Immer wieder dieses Bläser-Motiv. Tape-Schleife oder nicht, alles dreht sich mittlerweile. Isaac Hayes wollte 1975 mit »I can’t turn around« seinen Memphis-Soul in Richtung Disco beschleunigen und bringt damit über zehn Jahre später die Music Box zum Rotieren. Das nicht-lineare Funktionieren von Musikgeschichte wird auf der Tanzfläche noch mal besonders deutlich. Natürlich hat auch Isaac Hayes House Music nicht erfunden. Er macht einfach nur klar, dass das ständige Umdrehen und Zurückblicken auf vermeintliche Ursprünge sinnlos ist, wenn sich ohnehin alles dreht. I won’t turn around.
Genau in dem Moment, indem der Bläser-Kreisel etwas an Fahrt zu verlieren droht, switcht Ron Hardy noch mal alles around. Zurück zu J.M. Silk, aber diesmal in einer anderen, deutlich besser klingenden Version. Der Synthie übernimmt klirrend das Bläser-Motiv. Ein auf die Achtel immer wieder neu getriggertes Vocal-Sample stottert »I can’t, I can’t, I can’t, I can’t, I can’t, I can’t, I can’t, I can’t turn around…« Die Drums scheppern immer noch aber klingen jetzt deutlich klarer. Und während Kick und Snare bei all dem Gezerre nur schwer eindeutig zu benennen sind, ist bei der HiHat, die schließlich die Sechzehntel schmettert, klar, dass hier irgendwo auch eine TR-909 ihre Runden dreht. Vier Takte HiHat-Stakkato, dann übernimmt das ebenso charakteristische Ride-Becken die Achtel und gleich darauf geht’s per Bandschnitt zurück auf Anfang und alles noch mal von vorne los. I can’t turn around…
Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.
Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 331-334.