Listening Session #4

Sly & The Family Stone – Just Like A Baby

Hier stimmt etwas nicht. Nach 38 Sekunden öffnet sich der Raum ein wenig. Aber es bleibt eng. Außer Sly Stone scheint niemand da zu sein. Während der Bass seltsam außen vor bleibt, scheinen nur diese Drums im gleichen Raum zu spielen, in dem auch Sly krächzend einsetzt. »Just like a baby / Sometimes I cry / Just like a baby / I can feel it when you lie to me« Wahr- scheinlich sitzt er alleine im halbdunklen Regieraum des kleinen Studios, dass sich – wie in ei- nem einschlägigen Agentenfilm – hinter einer falschen Bücherwand seiner mondänen Villa in Bel Air, Hollywood, versteckt. Die akustisch-klinischen Bedingungen aufwändig präparierter Aufnahmeräume interessieren ihn nicht. Und so sitzt er kauernd vor der Mischpultkonsole, spielt seine shuffelnd trottende Bassline direkt an das Pult angeschlossen und singt in heiserem, manchmal beinahe flüsternden Ton. »Just like a baby / Everything is new / Just like a baby / Come to find out / I’m a whole lot like you, too« Mehrere leicht zerrende Clavinet-Spuren beha- keln sich, verwirren sich ineinander, darunter wogen nur für Augenblicke leise Farfisa-Orgel- Akkorde hervor, die erst im Verlauf des Tracks deutlicher werden.

All das kippt bei besagter Sekunde 38 erst einmal nach hinten. Vorne nur noch Sly, sein Bass und diese Drums. Auf der Snare-Drum hört man den klaustrophobischen Raum am deutlichsten, der sich mit einem Mal auftut. Ein kurzer Hall legt sich darauf, die Mitten beginnen zu scheppern. So subtil diese Veränderung auch sein mag, lässt sie doch keinen Zweifel daran, dass der Raum, in dem wir uns hier befinden, zu aller erst ein Medien-Raum ist, aufgespannt durch das multidimensionale Über-, Hinter- und Nebeneinander verschiedener Zeit/Raum-Achsen auf Sly’s Multitrack-Aufnahme. Dieser seltsam enge Hallraum ist höchstwahrscheinlich einfach der Backing-Track aus Rhythmus und Orgelflächen, der völlig ungerührt auf der Monitor-Anlage des Studios läuft, während Sly seine Vocals als weiteren Overdub aufnimmt.(1) Diese Aufnahme will kein phonographisch-realistisches Zeugnis ablegen von einer auratisch aufgeladenen Aufnahme-Situation. Vom mythischen Glauben an die transparente Dokumentation einer ›authentischen‹ Performance ist Sly Stone weit entfernt – eher bildet er gerade eine Art Kehrwert des HiFi-fetischierten Signal/Rausch-Abstands. Und weil in einem solchermaßen konsequent inszenierten Medien-Raum eben keine vermeintliche Band-Authentizität mehr Platz hat, ist es nur folgerichtig, dass hier keine Band mehr spielt. Die anderen Musikerinnen und Musiker der Family Stone suche ich auf »Just Like A Baby« vergeblich. Bobby Womacks Gitarre webt sich zwar nach einiger Zeit zwischen die Clavinet-Winkelzüge. Vielleicht singt er auch die zweite Stimme auf der zu einer Art Minimal-Refrain aufgebohrten Zeile »Just like a baby«. Aber an- sonsten bleibt Sly Stone alleine – nur das Slow-Rock-Pattern seiner Funkbox pulst gemächlich mit ungefähr 70 Schlägen pro Minuten, spielt eine simpelste 6/8-Figur, die sich ebensogut als klassischer Backbeat hören lässt, und auf deren HiHats der Bassline-Shuffle aufsitzt. »Just like a baby / See the thing, it’s growin’ / Just like a baby / Blowin’ …« Verstummen der Lyrics – der Funk-Box-Groove aber läuft noch minutenlang weiter.

»Just Like A Baby« ist der zweite Track auf der LP There’s A Riot Going On, die Sly & The Family Stone im November 1971 veröffentlichen. Es ist keineswegs die erste Pop-Platte, die die neuen ästhetischen Möglichkeiten der Mehrspurtechnik und der Tonbandmontage auslotet – das ha- ben viele andere zuvor (und kulturwissenschaftlich so viel und gerne zitiert) bereits getan: von Sgt. Pepper über Pet Sounds bis zu Bitches Brew. Es ist auch nicht die erste Pop-Platte, auf der eine Drum-Machine spielt – denn nichts anderes verbirgt sich hinter dem vielsagenden Ko- senamen ›Funkbox‹ als ein Rhythm King der Firma Maestro. Aber Robin Gibb, Mitglied der Bee Gees, kam mit seiner Solo-Single »Saved By The Bell« über zwei Jahre zuvor. Und auch Sly Stone selbst veröffentlichte auf dem eigenen Label Stone Flower bereits 1970 erste Produktionen, auf denen die Funk-Box zum Einsatz kommt, etwa den Track »I’m Just Like You« der Band 6ix, einem frühen Entwurf von maschinischem Proto-Funk. There’s A Riot Going On ist vielmehr ein klanglicher Kulminationspunkt, an dem sich neue futurhythmatische Fragestellungen und Probleme in vorher unerreichter Klarheit nachhören lassen.

Hold up! Hier stimmt etwas nicht. 1970 sind Sly & The Family Stone Superstars. Um drei Uhr im strömenden Regen des frühen Sonntagmorgen am 17. August 1969 hatte die Band das Woodstock-Festival mit einem furiosen Auftritt aufgeweckt,(2) der im Rolling Stone Magazin damals einschlägig zu einem der besten des ganzen Festivals erklärt wurde.8 Was diese Woodstock- Show in Sachen Live-Performance war, das fand sich mit der LP Stand! bereits kurz zuvor, im Mai ’69, in Vinyl gepresst:

»Stand! embodies everything Sly and the Family Stone brought to the table in the late sixties. Here is this band made up of black and white, men and women (who actually play instru- ments!), constantly singing of harmony, tolerance, and individuality.« (Lewis, Miles Marshall (2010): There’s A Riot Goin’ On. New York: Continuum, S. 60).

Stand! und der anschließende Auftritt bei der Vollversammlung von Hippietum und Counter-culture markieren zusammengenommen sowohl einen künstlerischen Höhepunkt, als auch eine Sollbruchstelle in der noch jungen Karriere der Band Sly & The Family Stone. Ahmir ›Questlove‹ Thompson, Drummer der Band The Roots, resümiert deren Bedeutung in der Geschichte des Funk zu diesem Zeitpunkt:

»The were the utopian Poster-children of all that was beautiful during the civial rights era« (Ahmir ›Questlove‹ Thompson zit. n. George, Nelson (2013): Finding The Funk. The Storytellers. Finding The Funk Productions, Min. 00:28:50).

Dann aber läuft etwas schief. Mit dem großen Projekt, dessen utopische Hoffnungen sie so mustergültig auf sich vereint hatte – eine Band, in der Schwarze und Weiße Musikerinnen und Musiker zusammen spielten und jede Stimme, jedes Instrument gleichberechtigt zur Geltung kam –, gerät auch die Family Stone aus der Bahn. Am Ende dieses Kapitels werde ich diesen so vielschichtigen »Family Affairs« auf dem berühmten gleichnamigen Track ausführlicher nachhören [ACHTUNG: HIER VERWEIS EINFÜGEN]. Hier aber, auf »Just Like A Baby«, höre ich in aller Deutlichkeit irgendetwas umbrechen oder zusammenbrechen. Dieser Bruch zieht sich bis in den Sound von Sly & The Family Stone hinein. Sly Stone ist alleine mit der Funkbox.

Rhythmaschinischer Solipsismus.

Anmerkungen:

(1) Richard Tilles, einer der Engineers während der Aufnahmen für das Riot-Album, berichtet Alec Palao von die- ser eher unüblichen Aufnahmesituation: »[H]is preferred method of doing vocal overdubs in the control booth of the studio added to the ambience by leaving faint, ghostly traces of other tracks.« Palao 2014, S. 9. Ähnlich erinnert sich auch ein weiterer Studiotechniker, Tom Flye, zit. in. Kaliss, Jeff (2008): I Want To Take You Higher. The Life And Times Of Sly & The Family Stone. Milwaukee: Backbeat Books, S. 109.

(2) Larry Graham, Bassist der Band, erinnert sich: »When we did stop playing, there was this tremendous roar unlike anything we had ever heard. It was dark and you couldn’t see all those people, but to hear that was like, Wow! To go back out and play the encore after hearing that, it made us rise to another level we had never been musically. There was so much energy, everybody reached deep down inside and pulled out some stuff we didn’t know was there. […] We started playing in this new zone we had never played in before and it was some of the heaviest stuff I had ever been involved in. That is what I felt Woodstock did for us.« Zit. n. Selvin, Joel (1998): Sly And The Family Stone. An Oral History. New York: Avon Books, S. 77/78.

Diese Listening Session ist Teil des Buches ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen von Malte Pelleter. Das Buch ist hier als Open Access Veröffentlichung frei verfügbar.

Zitation: Pelleter, Malte (2020): ›Futurhythmaschinen‹. Drum-Machines und die Zukünfte auditiver Kulturen. Hildesheim: Olms und Universitätsverlag. Hier: S. 199-202.