aus Malte Pelleters »Futurhythmaschinen«
von Rolf Großmann
Es gibt gute Nachrichten: Malte Pelleters Arbeit über Drum-Machines (»Futurhythmaschinen«) ist erschienen, als PDF im Open Access sowie als Paperback im OLMS Verlag. Ein physisch wie inhaltlich umwerfendes Buch mit über 600 Seiten voller Geschichten mit und über Drum-Machines. Dazu später mehr. Denn es gibt noch bessere Nachrichten: Die dort enthaltenen Listening Sessions sind samt Links auf die Musikbeispiele als einzelne Exkurse auf unserer ((audio)) Website zu finden. Die Sessions ermöglichen genau das, was das Web gut kann: klicken, zuhören und dabei lesen. Und was man dort liest, ist so schlau und kenntnisreich, dass Frau und Mann sich fast schon über die viele Zeit ärgern, die sie mit Web-Feuilletons und Szeneblogs zugebracht haben. Bevor also der dicke pdf-Wälzer auf unserem Desktop geöffnet wird, bieten die Listening Sessions eine idealen Einstieg. Eine Serie von Teasern, die ähnlich süchtig machen wie die Folgen von Peaky Blinders (bitte hier die aktuelle Lieblingsserie einsetzen). Statt Netflix also ein, zwei Listening Sessions und der Pandemieabend ist gerettet.
Wo soll das alles hinführen? Natürlich zu den »Futurhythmaschinen«. So heißt der Band in Anlehnung und vielleicht auch ein wenig als Hommage an Kodwo Eshuns „Sonic Fiction“. Er erzählt anhand von Beispielen fast alles über Stationen der Entwicklung von Drum-Machines und ihre jeweilige ästhetische Praxis, ihr musikkulturelles Umfeld und die Diskurse, die sich um diese Maschinen ranken. Gegliedert ist das Mammutwerk in abgegrenzte Episoden, die zwar eine chronologische Reihenfolge haben, aber niemals behaupten, dass sie nicht auch anders erzählt werden könnten.
Für die Leserin und den Leser hat dies den Vorteil, dass es absolut sinnvoll und legitim ist, die Arbeit in einer selbstbestimmten Folge von thematischen Abschnitten zu lesen. Wer sich nicht primär für Methode und Theoriediskurs interessiert, kann also durchaus die ersten beiden Kapitel zunächst einmal zur Seite legen und bei ihrer oder seiner Lieblings-Drumaschine beginnen. Es ist alles da, vom Sideman zum Rhythm King über die 808, die LM-1, die SP 1200 zur MPC. Wer lieber die Nerdvariante bevorzugt, kann das Pionier-Kapitel (3) zum Rhythmicon lesen und einiges über die kreativen algorithmisch-ästhetischen Missverständnisse der amerikanischen Avantgarde um Joseph Schillinger und Henry Cowell erfahren. Dabei macht sich der Autor die Mühe, die rhythmischen Signale des Rhythmicons mittels der NI-Software Reaktor zu rekonstruieren und in der Listening Session #1 zu Gehör zu bringen. Normalerweise raunt der Diskurs andächtig über diese mystischen Rhythmen, hier können wir sie hören und selbst entscheiden, welchen Mystiklevel wir ihnen auf der Skala profan – heilig zuschreiben wollen.
Es gibt aber auch in der Popmusik höchst Abgründiges, wie eine »Unheimliche Abschweifung« im Kapitel 5 zeigt, in der das Gespenstische lange vor Mark Fishers Hauntology bei Sly Stone ausgemacht wird. Dass Sly die Rhythmusmaschine Rhythm King mit ihrem unheimlichen Groove „in den Schoß der Familie“ führt, sie zum Teil der family affair macht, klingt schon in der Listening Session #4 an, in der Listening Session #9 wird es Gewissheit (und bringt für alle, die bis dahin dachten, Funk sei ein humanes mikrorhythmisches Gegenmodell zu maschineller Gleichförmigkeit eine unheimliche Erkenntnis). Spätestens nach einigen dieser Episoden wird klar, warum das Buch „Futurhythmaschinen“ heißt und warum es sich lohnen könnte, auch die restlichen Kapitel zu lesen. Und schon wieder ist Netflix in Gefahr, denn wer so weit vorgedrungen ist, wird den Serienabend zum Leseabend machen …