Zur Erzeugung ortsspezifischer Sounds und dem Potenzial ihrer Entkopplung am Beispiel der Musikproduktion des funk-Formats Sounds Of
von Lisa Noel
1. Einleitung
Sounds Of nennt sich ein gegenwärtiges YouTube-Format des Künstlers Fynn Kliemann, der zusammen mit unterschiedlichen Musiker*innen Klänge und Geräusche an bestimmten Orten aufnimmt. Gemeinsam in Kliemanns Tonstudio werden diese Sounds in jeweils ein Musikstück transformiert und anschließend die einzelnen Sounddateien als „Soundpacks“ zum freien Download und folglich zur Adaption bereitgestellt1. Bisher umfasst Sounds Of, das über einen eigenen YouTube-Kanal abrufbar2 ist, fünf Episoden. Sounds Of ist eine Produktion von Fynn Kliemanns Firma Lüttenshof GmbH und damit ein Programminhalt von funk, dem gemeinsamen Angebot von ARD und ZDF.
Der Name des Formats suggeriert, dass die Klänge eines Ortes entstammen, für den sie spezifisch stehen. Aus kulturwissenschaftlicher bzw. ethnografischer Perspektive könnte zunächst angenommen werden, diese Aufnahmen funktionierten als Soundscape und böten die Möglichkeit, durch das Hören etwas über den Ort, seine Bewohner*innen und deren Alltagspraktiken zu erfahren, denn „in der Interpretation von Klängen liegt die Möglichkeit, das kulturelle Setting einer Umgebung zu erfassen, zu erklären und zu verstehen, sowie Zugänge zur Alltagskultur zu öffnen, die nicht über kognitive oder visuelle Fähigkeiten erfasst werden.“ (Oehme-Jüngling 2014: 351f.) Bei Sounds Of werden allerdings nicht auditiv wahrnehmbare Geräusche im Sinne einer Soundscape aufgenommen, um den Ort an sich hörbar zu machen. Vielmehr werden auf unterschiedliche Weise und mit weniger bzw. stärkerer Intensität selektiv Dinge zum Klingen gebracht.
Welche Orte werden hier ausgewählt und welche Klänge für repräsentativ erachtet? Inwieweit spielen individuelle Erfahrungen, Vorannahmen und die lokale Materialität eine Rolle bei der Entstehung der Sounds? Wie die Fragen andeuten geht es mir weniger um die musikalische Beurteilung und Kontextualisierung der einzelnen Endergebnisse, sondern vielmehr um die Erzeugung und den Einsatz von Klängen und Geräuschen innerhalb der Musikproduktion sowie deren Repräsentationsmechanismen. Außerdem soll überlegt werden, welche Potenziale die Verbreitung und technische Adaption der Sounddateien hinsichtlich einer sich auflösenden Lokalisierbarkeit von Sounds bieten kann.
Zunächst werde ich die Möglichkeiten der auditiven Darstellung eines Ortes in den Blick nehmen. Dabei spielen die reziproke Wirkung subjektiver Wahrnehmung und materieller Beschaffenheit sowie spezifisches kulturelles Wissen eine bedeutende Rolle. Anschließend werde ich zwei Folgen Sounds Of vorstellen und bereits exemplarisch die Besonderheiten der Klangerzeugung, die Vorgehensweise während der Aufnahmesituationen und die repräsentative Wirkung der Klänge herausarbeiten. Im nächsten Schritt soll genauer auf die Klänge an sich geschaut und deren gestalterisches Potenzial konkretisiert werden.
2. Einfangen von Sounds? – Zur Verbindung von Sounds und Orten
„Jeder Ort hat seinen eigenen Sound. Wir fangen mit unseren Lieblingsmusiker/innen jene Orte ein, die ihnen etwas bedeuten.“ (so-kliemannsland) verspricht das Team von Sounds Of und ermutigt die Rezipient*innen ihre eigenen St. Pauli-, Äthiopien-, Freizeitpark-, Kliemannsland- sowie Köln-Songs auf Basis der zum freien Download bereitgestellten „Soundpacks“ zu produzieren. In vielerlei Hinsicht wirft dieses Versprechen, und somit die Intention des Formats, Fragen auf: Inwiefern kann von einem ortsspezifischen Sound gesprochen werden und welche Klänge erzeugen diesen Sound? Wie kann über Sounds die individuelle Bedeutung eines Ortes vermittelt werden und auf welche Weise wird dieser Sound eingefangen oder vielmehr hergestellt? Ist die Annahme der Produzent*innen tatsächlich, dass sich ein spezifischer Sound für einen Ort bestimmen und durch die von ihnen zur Verfügung gestellten Dateien reproduzieren lässt?
Ob Stadtteil, Vergnügungsort oder gar ein ganzes Land – zu wissen, woher die Sounds kommen, was sie symbolisieren und welche lokalen Bezüge sie herstellen, scheint über die Intention des Formates, den Ort „einzufangen“, hinaus von großer Bedeutung zu sein. Ich betone hier wissen, denn durch das Hören allein scheint diese Zuordnung zumindest am Ende der Produktion der Musikstücke nur noch teilweise möglich: „Wie ist die Kick gemacht? […] Ist die im Club entstanden? – […] die eine ist die Polster-Kick, die andere ist der Rettungsring [am Hafen, d. Verf.]“. (so-stpauli)
2.1 Sound und Atmosphäre
Zunächst kann zwar angenommen werden, dass ein Ort – wobei hier unklar bleibt, durch welche physischen, sozio-kulturellen oder politischen Grenzen dieser Ort gekennzeichnet wird – eine Soundlandschaft erzeugt, die ihm aufgrund bestimmter Klänge oder rhythmischer Signifikanten zugewiesen werden kann. Allerdings betont Oehme-Jüngling (2014: 354f.) die subjektive und situative Perspektive des*der Hörenden und die wechselseitige Beeinflussung von Mensch und Schallumwelt. Bei Sounds Of wird dieser Blickwinkel verschleiert, denn die Idee des tonalen „Einfangens“ eines Ortes verkennt die (materiellen) Bedingungen und Praktiken, die an der Erzeugung spezifischer Klänge beteiligt sind, sowie die Privilegierung einzelner Klänge in der jeweiligen Hörsituation. Dem Klang und der Wahrnehmung durch das Hören kommt dahingehend im Gegensatz zum visuell bzw. physisch erfahrbaren Raum eine besondere Stellung zu. So
„zeichnet sich die Klanglandschaft aus durch ihre ganz eigene räumliche Struktur, aber auch durch ihre Flüchtigkeit. Klar voneinander abzugrenzende akustische Territorien sind hier schon wegen der vielschichtigen Überlappungen verschiedener Schallfelder kaum auszumachen.“ (Schlueter 2014: 4)
So wie folglich der eine Sound eines Ortes nicht existiert, ist gleichermaßen die Wahrnehmung des Ortes über dessen „Schallfelder“ (ebd.) abhängig von subjektiven Hörerfahrungen. „Abhängig von den individuellen kulturellen sowie Klang- beziehungsweise Musikerfahrungen und insbesondere auch der jeweils konkreten Hörsituation, kann ein Stück [oder ein Ort, d. Verf.] so und auch ganz anders gehört werden.“ (Binas-Preisendörfer 2013: 24) Neben der jeweiligen Hörsituation, bei der sowohl ein physisch-materielles als auch ein imaginäres Raumverständnis in Wechselwirkung mit dem Klang steht, sind folglich Imaginationen und Repräsentationen musikalischer und klanglicher Erfahrungen bedeutsam.
„Das in sozialwissenschaftlicher Hinsicht fundamentalste Kennzeichen des Klanglichen besteht in der Tatsache, dass Klänge in unserer Wahrnehmung meistens einen Sinn machen; eine Bedeutung haben; eine Bedeutung kommunizieren, transportieren. In dieser Bedeutung gehen sie in der Regel so sehr auf, dass sie in unserer Wahrnehmung – als Klänge an sich – hinter ihrer Bedeutung gewissermaßen verschwinden.“ (Bonz 2015: 8)
Städte, Stadtteile oder ländliche Räume unterscheiden sich nicht nur in ihrer physischen, materiellen Dimension sondern auch auf einer körperlich wahrnehmbaren Ebene, die Gernot Böhme (2006: 132) als „Atmosphäre einer Stadt“ (oder eines Stadtteils, eines ländlichen Raums oder weiterer anfangs konkret lokalisierbarer Orte) beschreibt. „Die Atmosphäre einer Stadt ist eben die Art und Weise, wie sich das Leben in ihr vollzieht.“ Diese Atmosphäre spüre man auf subjektiver leiblicher Ebene in Wechselwirkung mit andern Subjekten, Objekten und räumlichen Anordnungen.
„Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.“ (Böhme, 1995: 34)
Die Menschen, die sich an einem Ort aufhalten, sind also gleichermaßen an der Produktion der Atmosphäre sowie an ihrer Wahrnehmung beteiligt. Dabei sind Geräusche und Klänge als symbolische Bedeutungsträger für subjektive Lebens- und Ortserfahrungen innerhalb politischer Ordnungen und sozialer sowie kultureller Settings wirksam. (Vgl. Morat 2013: 134) In Opposition zur visuellen Wahrnehmung wirken Klänge immersiv und sind eher subjektiv-affektiv erfahrbar, während Visuelles das Einnehmen einer Perspektive erfordert und Objektivität begünstigt. (Vgl. Sterne: 13) Das besondere Potenzial akustischer Atmosphären liegt in einer Gleichzeitigkeit unterschiedlich wahrgenommener Erfahrungen einerseits. Andererseits in einer Lösung der Raumerfahrung von ihren physischen Grenzen durch einnehmende wie subjektive Qualität der Klänge. „[…] acoustic spatiality is a lesson in negotiation, for it splits apart while also mending; it disrupts the lines between an inside and outside, pulling into its thrust the private and the public to ultimately remake notions of difference and commonality.“ (LaBelle 2010: 1)
Die Atmosphäre eines Ortes spielt eine bedeutsame Rolle für die Identifikation mit einem Ort. Sie ist besonders insofern, dass sie leiblich spürbar und eben die Gemeinsamkeit des spürenden Subjekts und des Ortes in seinen physischen, materiellen, sozialen, kulturellen und leiblich erfahrbaren Dimensionen und umgekehrt ist. Gerade die leiblich erfahrbaren Dimensionen, wie Klänge oder auch Gerüche wirken einnehmend und über den Moment der Erfahrung hinaus, weshalb sie für die Identifikation von und mit einem Ort – und daher für das Format Sounds Of – bestimmend sind.
2.2 Kulturelles Wissen von Sounds
Johannes Ismaiel-Wendt forscht mit unterschiedlichen Anknüpfungspunkten zu postkolonialen Sounds und postkolonialer Musik, die ihm zufolge grundsätzlich in jeder populären Musik zu finden sind. So seien „die Stränge Kolonialismus, Dekolonisationsbewegungen und Neokolonialismus […] stets hörbar […] vor allem aus der immer wieder auftauchenden Verklammerung zwischen Sound und Rhythmus mit politischen Weltkarten und der Repräsentation kultureller Identitäten.“ (Ismaiel-Wendt 2013: 2) In jeder Musik sei ein bestimmtes Wissen eingeschrieben, das Kulturkonzeptionen sowie geografische Ordnungen umfasst. Die reziproke Verbindung von Popmusik und weltlichen Einflüssen führe dazu, dass „die Musik, also die Sounds, Beats und sonstigen Muster, etwas »wissen«“ (Ebd.: 6, H.i.O.) Hier wird deutlich, dass eben auch einzelne Sounds, die für die Produktion von Musik verwendet werden, nicht nur als bloßer Klang eingespeist werden, sondern bereits mit daran anknüpfenden Vorstellungen und einem „Wissen“ daherkommen, dass Teil der Musik wird.
Zwar werde ich aus meiner Perspektive, die Sound mit einem ethnografischen Ansatz in den Blick nimmt und weniger auf musikwissenschaftlichem Wissen fußt, die entstandenen Musikstücke bei Sounds Of weniger in ihren spezifischen Rhythmen unter dem Gesichtspunkt eines kolonialistischen Sounds entschlüsseln können. Doch finden sich bei Ismaiel-Wendt (vgl. Ebd.: 1) durchaus wichtige Hinweise auf andauernde Verbindungen von Orten und Sounds bzw. die Konstruktion imaginärer, „romantisierter“ Orte, die durch Sounds vermittelt und reproduziert werden.
Unter Rückgriff auf die von Edward Said geprägte Terminologie der „imaginären Geografien“ stellt Ismaiel-Wendt (vgl. Ebd.) fest, dass Vorstellungen kultureller Spezifik auf Annahmen eines europäischen Denkens über die „andere“ Lebensweise beruhen und mit den Lebensrealitäten der Menschen dieser Kultur einerseits und den damit verknüpften geografischen Grenzen andererseits nichts gemein haben. Sondern vielmehr „mit den Phantasien und Sehnsüchten der Westler, die diese Bilder erfinden.“ (Ebd.) Koloniale Strukturen und Prozesse seien diesen Bildern immanent und obgleich solche Vorstellungen nur „phantasmatische Räume“ entwerfen finden diese in alltäglichen Reproduktionen ihre Wirksamkeit. (Vgl. Ebd.)
Die Bedeutung der Verknüpfung von Orten und Sounds lässt sich, wie hier gezeigt wurde, auf unterschiedliche Ebenen zurückführen. Einerseits spielen Sounds eine entscheidende Rolle bei der Erzeugung einer Atmosphäre, über die ein Ort in besonders affektiver Weise wahrgenommen und erinnert wird. Mit besonderer Intensität bleiben Klänge, Geräusche und deren Rhythmen als charakteristisch für einen Ort bestehen und können auch nach Verlassen des Ortes noch über das Hören zugeordnet werden. Darüber hinaus bringen Klänge und Musik ein bestimmtes Wissen mit, in dem kulturelle Konzepte und Annahmen über die klangliche Zuordnung bestimmter Sounds und Rhythmen zu konkreten Territorien eingeschrieben sind.
3. Sounds Of…
Bei Sounds Of fangen Musiker*innen „besondere Geräusche und die Atmosphäre eines selbst ausgewählten Ortes ein und produzieren daraus einen eigenen Song.“ (soundsof o. J.) Mit einem Aufnahmegerät nehmen die Künstler*innen an einem selbst gewählten Ort Klänge auf, die sie vorwiegend als ortsspezifisch wahrnehmen, aber auch klanglich interessant und für musikalisch verwendbar erachten. Bereits während der Aufnahmen diskutieren die Künstler*innen über die Verwendung der Klänge für die anschließende Produktion ihres Songs, ob sie brauchbar sind, um eine Basedrum, Snare oder einen Synthesizer zu imitieren.
„Ich hab’ jetzt diesen schönen John Rig [ein Erdbohrer, der zum Brunnenbau verwendet wird und hier mit Gegenständen angeschlagen und zum Klingen gebracht wird]… mal ein paar Sounds von aufgenommen, um mal zu hören, wie der so klingt und dann was draus zu basteln. Was vielleicht im Endeffekt hoffentlich Musik ist.“ (so-äthiopien)
Auffällig dabei ist, dass vielmehr der Ort initiativ zum Klingen gebracht wird, als dass er in seinen zufällig vorhandenen Klängen wahrgenommen wird. Zwar gibt es bei dem einen oder der anderen Künstler*in Aufnahmen, die an ein Soundscape erinnern. Dabei geht es um das Hörbarmachen eines Teils einer Schallumwelt, in der innerhalb eines vorher bestimmten räumlichen oder zeitlichen Rahmens versucht wird, eine Gesamtheit der hörbaren Klänge zu dokumentieren. (Vgl. Oehme-Jüngling 2014: 355) Allerdings werden überwiegend Klänge aufgenommen, die im Moment der Aufnahme durch die Künstler*innen selbst hervorgebracht werden. Dabei steht die persönliche klangliche Erwartung an den Ort im Vordergrund und verweist auf die Verwobenheit von Klängen, persönlicher Hörerfahrungen, kultureller Imaginationen und der materiellen Beschaffenheit räumlicher Settings.
3.1 Sounds Of St. Pauli
Beginnend mit visuellen Ausschnitten eines Erotik-Etablissements, benennt der Musiker Nisse, dessen ausgewählter Ort der Hamburger Stadtteil St. Pauli ist, zunächst schlagwortartig „vier wesentliche Faktoren“ (so-stpauli), die seine Tonaufnahmen leiten sollen: „Sex, Straße, Musik und Hafen“. (Ebd.) Mit diesen Kategorien werden bereits vor der Aufnahmesituation kognitiv Konnotationen zu dem Stadtteil hergestellt, die sich logisch in eine lange Reihe von Bildern einfügen, die repräsentativ für den Stadtteil erscheinen. Zahlreiche Musikclubs sowie die rund um die Reeperbahn angesiedelten Erotik-Bars und die Hafennähe sind weit über Hamburg hinaus bekannt für St. Pauli. Trotzdem entstammen diese Kategorien einer Perspektive – der eines weißen Mannes deutscher Herkunft mit hohem Bildungsgrad, der im Musikgeschäft tätig ist und in seinen Zwanzigern auf St. Pauli gelebt, dort aber nicht aufgewachsen ist – und es ließen sich problemlos andere Klassifizierungen finden, die genauso passend erscheinen würden.
Die einzelnen Klänge der Folge sind ebenfalls aufgeladen mit Stereotypen, Erwartungen und Sehnsüchten, die der Stadtteil in sich trägt und erfordern ein spezifisches Wissen, um sie als charakteristisch für den Ort zu erkennen. So werden Schnapsflaschen gegen das Hans-Albers-Denkmal geklopft, die Figuren des Beatles-Platzes durch Anschlagen mit unterschiedlichsten Gegenständen zum Klingen gebracht und die Vibrationen von Sex-Toys zur Klangerzeugung verwendet. Außerdem Sammelbecher von Menschen ohne Obdach geschüttelt und der Klang des im Becher aneinanderklirrenden Geldes aufgenommen.
Die kognitive Assoziation mit St. Pauli spiegelt sich in der klanglichen Erwartung Nisse’s wieder, als er seinen Kollegen in eine Erotik-Bar schickt, um das Stöhnen von Sexarbeiterinnen aufzuzeichnen: „Er muss Sex-Sounds aufnehmen. `N bisschen Stöhnen. Und was ich daraus mache ist natürlich, ich brauche diese stehenden langen Sounds. Ich hoffe natürlich, dass die lange stöhnen, […] damit ich damit so Melodien machen kann.“ (so-stpauli)
Hier wird deutlich, dass nicht nur bereits kulturell, symbolisch und politisch aufgeladene Dinge zum Klingen gebracht werden, sondern ebenfalls Tönen nachgegangen wird, die am Aufnahmeort zunächst nicht hörbar sind, aber umso mehr sinnstiftend wirken und daher produktionstechnisch erwartet und benötigt werden. Ethisch wird der Eintritt und Mitschnitt in der Bar nicht hinterfragt und sprachlich im Video diskreditiert, als der Aufnehmende aus der Bar kommend auf seinen Kollegen, der draußen wartet, trifft:
„Leute, alter, [lautes Lachen], da ist man nicht allein in der Kabine. Da sitzt du mit fünf anderen Typen und die wichsen sich alle einen. [Erneutes Lachen beider] – Nein! – Doch, und bei dem anderen ist noch so `ne Nutte mit drin. Kein Witz, oh, Prostituierte, tut mir Leid. Und die guckt mich an… [Erneutes Lachen] und ich nur so, boah, ich muss hier wieder raus!“ (so-stpauli)
Vor allem aber wird die Bar und das Gewerbe visuell sowie intelligibel als Teil der Ortsspezifik erkannt und das Stöhnen als klangliche Manifestation dessen instrumentalisiert.
Durch scratchen wird der Klang des Stöhnens aufgebrochen und repetitiv als Melodiespur eingesetzt. Das Knacken leerer Plastikbecher imitiert Klatschen bzw. eine Snaredrum und hohe, scharf-hallende tonale Klänge, die durch einen Vibrator in einer Metallschale entstanden sind, stellen im Endergebnis mehrere Becken dar. Über vorgefertigte Plug-Ins in Ableton Live werden die einzelnen Klänge und Geräusche verändert, arrangiert und teilweise durch eingespielte Instrumental- und Gesangsspuren ergänzt. Das Endprodukt wird als stimmig für St. Pauli empfunden: „[…] passt zu Pauli, weil es ist rough, ´n bisschen, aber es ist trotzdem auch ein bisschen Hafen und Liebe und Wärme drin. Dann die Polizeisituation […].“ (Ebd.) Der physische Raum St. Pauli wird demzufolge von den beteiligten Personen in dem Musikstück identifiziert, wobei die Beschreibungen „rough, Hafen, Liebe und Wärme“ sich in diesem Kontext eher erneut an die vorherigen Assoziationen mit dem Stadtteil richten, als an die gesammelten Klänge an sich.
Die im Zitat abgesprochene „Polizeisituation“ verdeutlicht dies besonders: Das Aufnahmeteam spielt das Lied „The sound of the police“ des amerikanischen Rappers „KRS-One“ über eine Bluetooth-Box ab, während die Box unter einem Polizeiwagen in der Davidstraße liegt. Dieses Setting wird aufgenommen und als ein Sound verwendet. Offenbar verbindet der Künstler St. Pauli mit „Polizei“, was zu seiner Assoziation mit dem Stadtteil als Ausgeh- und Rotlichtviertel passt. Die Polizei ist in der Davidstraße ansässig und von dort aus regelmäßig im Viertel unterwegs. Die Umsetzung dieser Assoziation ist allerdings irritierend: Einerseits wird ein klangliches Setting erzeugt, das musikalisch repräsentativ wirkt, dessen Klang aber mit St. Pauli nicht viel zu tun hat. Andererseits bleibt der Einsatz des Songs von „KRS-One“, der seinerseits bereits politisch wie sozio-kulturell aufgeladen ist, da er rassistische Polizeigewalt thematisiert, völlig unreflektiert.
3.2 Sounds Of Äthiopien
Für die bisher einzige Folge, bei der die Klänge nicht in Deutschland aufgenommen worden sind, hat der Musiker Severin Kantereit Geräusche in Äthiopien gesammelt. Obgleich die Intention bei Sounds Of ist, Orte zu wählen, zu denen die Künstler*innen eine besondere Beziehung haben, wählt Kantereit Äthiopien aus, da er zufällig auf einer Projektreise dort ist, als er die Anfrage für Sounds Of von Kliemann erhält.
„Ich bin hier gerade mit einer Projektreise unterwegs, was heißt, wir fahren eigentlich von Ort zu Ort und besuchen schöne Projekte. Wie heute, waren wir an einer Schule mit 400 Kids, die da rumrennen […] und ich habe dann mit denen Musik gemacht. Oder Wasserprojekte haben wir besucht.“
Brisanterweise wählt hier eine weiße Person deutscher Herkunft einen ihm nur flüchtig und aus touristischer Perspektive bekannten Ort, um Klänge aufzunehmen, die dann als Sound für ein ganzes Land stehen sollen – der Ort, der Teil Äthiopiens an dem wirklich Sounds erzeugt werden, wird nicht einmal benannt.
Anknüpfend an Ismaiel-Wendts Arbeit wird hier auditiv ein „phantasmatischer Raum“ entworfen und als solcher reproduziert. Ismaiel-Wendt nimmt hier Bezug auf Edward Said, (vgl. 2014) der unter dem Begriff „Orientalismus“ eine Vormachtstellung des Westens fasst, der diese zu Kolonialzeiten durch sein sich selbst zugesprochenes Wissen über andere Kulturen legitimierte. Mit diesem Wissen wurde unter anderem die afrikanische Gesellschaft als Gegensatz zur europäischen Gesellschaft entworfen, die dieser defizitär gegenüberstand. Dieses sogenannte „Othering“ wurde so tiefgreifend betrieben und richtete sich auf gesellschaftliche, kulturelle, politische wie private Sphären, die stets als mangelhaft und nur durch Anpassung an die durch die Europäer für eben diese „Kultur“ vorgesehene Lebensweise zu verbessern waren. (Vgl. Ebd.: 49f.)
„Im Übrigen stellte man immer wieder klar, dass der Orientale zwar in einer eigenen wohlbeordneten Welt mit festen nationalen, kulturellen und epistemischen Grenzen und inneren Gesetzmäßigkeiten lebte. Doch was der Welt des Orientalen ihre Intelligibilität und Identität verlieh, war nicht das Ergebnis seiner eigenen Anstrengung, sondern verdankte sich eher einer komplexen Folge sachkundiger Manipulationen, durch die der Orient durch den Westen identifiziert wurde.“ (Said 2014: 53f.)
Fortdauernd fußt die Vorstellung einer „afrikanischen Kultur“ auf diesen kolonialen Strukturen und einer eurozentrischen Überlegenheit, die sich, wie Ismaiel-Wendt (2013) betont, eben auch musikalisch erkennen lässt.
Die Auswahl und Erzeugung der Klänge bei Sounds Of Äthiopien verweist auf die Vorstellung dieser kulturellen Identität. Es werden tonale Klänge wie Kindergesänge, scharf-hallende Geräusche von angeschlagenem Blech, und dumpfere Töne von weiterem Hüttenmaterial aufgenommen. Sowie Bewegungen und Töne unterschiedlicher Tiere, Pflanzen, die sich im Wind bewegen, und knackende Zweige. So entstehen zahlreiche perkussive Sounds, die die Aufnehmenden für entweder ortsspezifisch oder für klanglich und produktionstechnisch besonders geeignet erachten. Außerdem werden Melodien mit Instrumenten eingespielt, die der Künstler aus Äthiopien mitgebracht hat und additiv Synthesizer und Gitarren arrangiert. Im Vordergrund des Sounds stehen allerdings deutlich die Aufnahmen der singenden äthiopischen Kinder und deren rhythmisches Klatschen und Stampfen.
„[…] weil alle wissen, dass der «Afrikaner-an-sich» Shaker und Kalebassen zum Rasseln benutzt – diese Ur-Instrumente aus Naturmaterialien, die hier nur noch Babys in die Hand gedrückt werden […] Und die natürlichsten und ursprünglichsten Instrumente sind nicht zu überhören: Das sind natürlich die Hände, in die geklatscht wird“ (Ismaiel-Wend 2016: 46)
Die abschließende Beurteilung des Songs fällt abermals als erfolgreich den Ort charakterisierend aus: „voll atmosphärisch, und das fängt das, glaube ich, gut ein da. Morgens, raus… – Ja, ey, das war ja so’n schönes Setting“. (so-äthiopien) Das begleitende Videomaterial unterstreicht, die hier zwischen den Zeilen vorgenommenen Verknüpfungen mit der kulturellen Identität des Ortes. Die Spezifik wird über die Natur – das schöne Setting, denn im Video sieht man ein beeindruckendes Panorama –, das Draußen-Sein und den Sonnenaufgang als Ursprung des Tages hergestellt. Die Bezeichnung „atmosphärisch“ lässt vermuten, dass mit dem Sound die Stimmung widergespiegelt wird, die von dem Ort auf die Hörenden wirkt und in diesem Fall nicht einmal eine reale Ortserfahrung voraussetzt, denn die Aussage trifft Kliemann, der nicht mit in Äthiopien war. Folglich bezieht sich die positive Bezeichnung des Musikstücks als „athmosphärisch“ auf eine vermutete Atmosphäre, die auf kulturellen Annahmen über den Ort, die sich in den Sounds widerspiegeln, basiert. Unterstützt wird dieses Empfinden durch mitgebrachte Videoaufnahmen, die vor allem Landschaft, Licht und singende und tanzende Einwohner*innen zeigen.
Durch die rhythmischen Trommelklänge und Kindergesänge wird etwas Ursprüngliches, Natürliches imaginiert, das sich im Sinne des „Othering“ als fremd und aufregend gegenüber der normalen, europäischen vernunftbasierten Lebensweise stellt. (Vgl. Said 2014: 53) Die Materialien, mit denen die perkussiven Sounds erzeugt wurden und die Lebensrealitäten auf die sie hinweisen, haben den Anschein irrelevant zu sein. Das Singen der Kinder wird als magisch und kulturverbindend wahrgenommen, indem es mit einer vorangegangenen Situation verglichen wird, in der die Sprachbarriere zwischen Aufnahmeteam und Einwohner*innen als angespannt und komisch empfunden wurde. Es findet keine Einordnung des gesungenen Liedes statt – weder textlich, kulturell noch politisch. Das Singen wird lediglich als Sound verwendet, der diesen magischen Moment, in dem Musik eine „kulturelle Barriere“ überwindet, symbolisiert und gleichzeitig durch seinen Rhythmus und die fremde Sprache abermals die „afrikanische Kultur“ stigmatisiert.
Die Herkunft der Sounds und Vocals scheint hier also nur selektiv von Bedeutung zu sein, je nachdem, welche Symbolik sie für die Hörenden besitzt und inwieweit sie für die Musikproduktion sinnstiftend wirksam sein soll. Nachfolgend soll über eine weitere Verbindung von Orten und Sounds nachgedacht werden, nämlich über den Klang und seinen Ort der Erzeugung. Dies scheint mir insofern wichtig, als dass bei Sounds Of oftmals in umgekehrter Weise eine Bedeutung des Ortes über einen Sound erzeugt wird, die nur über das Kennen der Sound-Ursache wirksam ist.
4. Loslassen von Sounds? – Zum Potenzial von ortlosen Sounds
Solange Sounds als Bedeutungsträger fungieren und, wie Bonz (2015: 8) hervorhebt „hinter ihrer Bedeutung verschwinden“, anders formuliert vor allem unter Rückriff auf ihre Herkunft und das ihnen immanente „Wissen“ wahrgenommen werden, ist das volle Potenzial des Klanges als Material – und das ist meines Erachtens wichtig, da es hier um die Musikproduktion mit Soundmaterial geht – nicht erkannt. Denn
„we can experience a sound without experiencing its source, and the source without the sound. So while sources generate or cause sounds, sounds are not bound to their sources as properties. Sounds, then, are distinct individuals or particulars like objects.“ (Cox 2011: 156, H. i. O.)
Indem Sound innerhalb einer das Visuelle privilegierenden Betrachtungsweise als zweitrangiges Merkmal zur Beschreibung einer Sache dient – „the sound of a bird, the sound of an air conditioner […]“ (ebd. H. i. O.) – scheint Sound nur in Relation zu seiner Ursache zu existieren. Allerdings, so stellt Christoph Cox im Vergleich mit tatsächlichen zweitrangigen Charakteristika wie Farbe klar, bleibt Sound trotz qualitativer Veränderungen als Sound bestehen. (Vgl. ebd.) Wenn also das Geräusch einer Seilbahn beispielsweise aufgenommen und technisch verändert wird, bleibt es dennoch dieses Geräusch. Zwar ein verändertes und eben gerade nicht notwendigerweise auf seinen verursachenden Gegenstand zu beziehendes. Wenn diese Seilbahn aber blau lackiert ist, kann dieses Merkmal nur in Zusammenhang mit dem Objekt bestehen und eine Veränderung, also eine Umlackierung, nicht überstehen.
Interessanterweise finden sich vor allem in dem St. Pauli Beispiel diverse Sounds, die beim Hören der Klänge ihrem Ursprung nicht zugeordnet werden können. Wie das Beispiel des Rettungsrings zeigt, der zur Herstellung eines Kick-Sounds dient, ist selbst dem Aufnahmeteam ein Erkennen des klanglichen Ursprungs hinterher nicht mehr möglich. So könnte die Kick als dumpfer, präziser Klang beschrieben werden und die Zuordnung, dass dieser beim Gegenspringen gegen einen an einer Brücke hängenden Rettungsring entstanden ist, wäre unnötig für die Verwendung des Klangs – genauso, wie diese Tätigkeit grundsätzlich nichts mit St. Pauli zu tun hat. Sondern lediglich den Rettungsring, der symbolisch für den Hafen steht, der seinerseits symbolisch für „das Tor zur Welt“ steht, in die Klangerzeugung integriert.
Hier läge ein Potenzial des Formats, das zwar ganz klar mit der Intention einen Ort zu vertonen arbeitet, aber deren Klang- und Geräuschproduktion sich eigentlich vielmehr an den gestalterischen Möglichkeiten ausrichtet, als an deren Symbolhaftigkeit, die ihnen erst im Nachhinein zugeschrieben wird, um die Bedeutungsebene des persönlichen Ortsbezugs sicherzustellen. Die oben aufgeführten Beispiele des Stöhn-Sounds oder der „Polizeisituation“ zeigen, wie hier ein Sound erst zu etwas lokalspezifischem gemacht wird und ohne diese kognitive Zuschreibung in keiner Verbindung mit dem Ort steht. Oder aber, je nach Zuhörer*in, ganz andere Assoziationen hervorrufen können.
Wie kulturelle und symbolische Repräsentationsmechanismen, die über Sounds vermittelt werden, aufgebrochen werden könnten zeigt Johannes Ismaiel-Wendt (2016) im Rahmen einer Soundlecture. Ismaiel-Wendt dekonstruiert dabei den vorprogrammierten Rhythmus „AfricC“, der eines von zahlreichen Presets auf dem Drum Computer RY 30 der Firma Yamaha ist. Dabei erachtet er die Musik als „Aktivistin“, (Ebd.: 44) die sich der Fixierung an Orte entzieht. Obwohl es in dieser Soundlecture vorwiegend um den Bezug der Rhythmen und deren Beziehungen zu tief verwurzelten kolonialen Denkweisen geht, finden sich hier erstens erneut durchaus wichtige Hinweise auf die Bedeutung der Ursprünge von Sounds für Musikproduzent*innen. Zweitens schließt Ismaiel-Wendt seine Soundlecture mit einer Entkopplung und Transformation von „AfricC“, die dem Track ihre kulturelle Aufladung entzieht und den ortlosen Charakter der Klänge bestärkt.
Unter „Topophilie der Agent*innen populärer Musik“ fasst Ismaiel-Wendt (ebd.: 43) das „Begehren nach Verortung“, (ebd.) das sämtliche Akteur*innen innerhalb der popmusikalischen Szene verbindet. „Musizierende, Produzierende, Rezipierende, Archivierende, Ausstellende und Forschende scheinen eine Sehnsucht nach der Kopplung von musikalischen Gestaltungsmitteln, Instrumenten und Stilen an Territorien und damit indirekt an Kulturen zu haben.“ (Ebd.) So lassen sich in den Namen der Presets des Drumcomputers und beispielsweise in musikalischen Genres territoriale Grenzen lesen, die repräsentativ für kulturelle Identitäten dieser Orte stehen.
Diese Sehnsucht, musikalische Tätigkeit an kulturelle Erfahrungen und lokale Spezifika zu knüpfen, ist offenkundig Programm bei Sounds Of. Es wird suggeriert, durch das Einbringen individueller Ortserfahrungen und atmosphärischer leiblicher Wahrnehmungen, mithilfe spezifischer Sounds, das eine Musikstück zu produzieren, das diese persönliche Verbindung zu einem Ort auditiv manifestiert. Die Titel der Produktionen bei Sounds Of arbeiten unverkennbar mit der Idee, die Sounds als Klänge und Geräusche von etwas zu verstehen. Sounds of St. Pauli und Sounds of Äthiopien vermitteln konkrete lokale Vorstellungen, die klanglich repräsentiert werden sollen. Dies macht sich darüber hinaus in der Beschreibung der einzelnen Dateien in den „Soundpacks“ bemerkbar, die „Albers Statue Scherbe“, „Beatles Figuren“, „Club Vibrator“ oder „Kinder singen in der Schulklasse“, „Schritte durch trockenes Gras“, „Vogelzwitschern“ heißen und sich an der Beschreibung der Sache und weniger am Sound orientieren.
In Opposition zu den „Agent*innen populärer Musik“ stehen bei Ismaiel-Wendt die musikalischen Gestalten ihrerseits, die er als „topophob“ (ebd.) kennzeichnet. „Die Topophobie meint hier ein Unbehagen in Bezug auf die Verortung und Fixierung von Musik.“ (Ebd.) Dies äußert sich insofern, dass Musik nicht etwa im Stillstand funktioniere, sondern vielmehr zahlreicher Bewegungen entspringe. Diese Bewegungen ziehen sich vom Moment der Erzeugung durch Subjekte und Objekte, über vermittelnde Medien bis hin zur körperlichen Wahrnehmung. Die Musik wird folglich zur Aktivistin, der in ihren „ästhetischen Formen und Formationen“ spezifisches Wissen immanent ist. (Vgl. Ebd.) Durch das Ablegen der Fixierung und den Zuspruch des Überwindens von Grenzen bzw. Orten – wie ebenfalls durch das von Cox attestierte Potenzial der Materialität von Klang, der Klang gleichermaßen als „temporal event“ (Cox 2011: 156, H. i. O.) versteht – entfaltet sich dieses aktivistische Vermögen. So richten sich beide Ausarbeitungen gegen eine essentialistische Denkweise, die eine Unmöglichkeit auf Veränderungen in sich trägt.
Allerdings weisen beide Ansätze einen deutlichen Unterschied auf. Cox plädiert dafür weniger die representative Ebene von Sound zu untersuchen, sondern vielmehr zu fragen „what it does, how it operates, what changes it effectuates.“ (Ebd.: 157, H. i. O.) Er geht von einer Materialität des Sounds aus, die sich in einer vor-sozialen Phase befindet und ihr einen naturalistischen Charakter zuschreibt. (Vgl. Ebd.: 150ff.)
Gegenteilig dazu betont Ismaiel-Wendt im Fall von „AfricC“, dass es darauf ankäme, wie der Rhythmus gehört würde und weniger darauf, was er sei. (Vgl. Ismaiel-Wendt 2016: 45) Hören als soziale Praxis, die stets mit einem spezifischen Wissen und kulturellen Verständnissen einhergeht, unterscheidet sich als methodische Herangehensweise an Sound folglich stark von einer „Natur“ oder „Identität“ von Sound.
Durch die technische Bearbeitung von „AfricC“ während der Soundlecture stellt Ismaiel-Wendt eindrücklich dar, wie die Transformation einer Rhytmusfolge und ihrer Einzelelemente durch Pitching, Breaks, Cuts und weitere gestalterische Mittel so bearbeitet werden kann, dass „Von AfricC aus […] unendlich viele performative Räume imaginiert werden […, können, d. Verf].“ (Ebd.: 48) Hinsichtlich solcher imaginärer Räume und mit Verweis auf Böhmes Athmosphärenbegriff können wohl grenzenlos Athmosphären, nicht aber konkrete Orte auditiv erzeugt werden. (Vgl. Ebd.)
Mit dem Begriff „Sonic Delinking“ fordert Ismaiel-Wendt eine systematische Befreiung von der Kartierung und Kategorisierung der Musik. (Vgl. Ismaiel-Wendt 2013: 5) Durch die technischen Transformation der Musik, sollen territoriale Grenzen und imaginäre Geografien sowie kulturelle Identitätsentwürfe mithilfe des aktivistischen Vermögens musikalischer Kompositionen subversiv unterlaufen und somit überwunden werden. Mit dem Verständnis eines „Tracks“ als Werkzeug möchte Ismaiel-Wendt „das Denken in Tracks als alternatives Kulturverstehen und -erleben vorstellen und als ein geeignetes Konzept transkultureller Musikvermittlung vorschlagen.“ (Ismaiel-Wendt 2016: 45)
Da die Musikproduktion bei Sounds Of als Baukastenprinzip vermittelt wird mit der Intention es einer breiten Masse zu ermöglichen, im Do-it-yourself-Prinzip auf Grundlage der „Soundpacks“ Songs zu entwickeln, ließe sich hier ein weiteres Potenzial des Formats erkennen. Denn durch die technische Bearbeitung der einzelnen Sounds und rhythmischen Arrangements könnten im Sinne der „Tracks als Werkzeug“ Musikstücke produziert werden, deren Repräsentationsebene aufgebrochen wird. Durch die Adaption unterschiedlicher Musiker*innen sowie Lai*innen könnten konkrete „eingefangene“ Orte hinsichtlich der Erzeugung grenzenloser, klanglicher und kulturübergreifender Atmosphären losgelassen werden.
5. Fazit – Of Sounds
Die Idee von Sounds Of mit Geräuschen und Klängen Musik zu gestalten, soll innerhalb dieser Auseinandersetzung keineswegs als illegitim oder aber innovativ dargestellt werden. Denn Geräusche finden spätestens Ende des 19. Jahrhunderts den Einzug in musikalische Kompositionen und ermöglichen experimentelle Ausdrucksmöglichkeiten sowie neue Chancen, Realitäten musikalisch zu vermitteln. (Vgl. Weibel 1995: 82f.)
Vielmehr dient das Format als ein aktuelles, und durch Fynn Kliemanns Popularität zunehmend bekannter werdendes Konzept, als Hinweis darauf, wie selbstverständlich „Alltagssounds“ in Musikproduktionen verwendet werden und diese als etwas Essenzialistisches, Natürliches verhandelt werden, während sie doch deutlich auf kulturelle Repräsentationen sowie sozialgesellschaftliche und politische Strukturen verweisen. Außerdem darauf, dass stets die Verbindung und Bedeutung der Herkunft oder Ursache eines Sounds gesucht wird und das Potenzial des Hörens als Praktik zweitrangig bleibt.
Dabei könnte die Chance des Formats allerdings gerade darin liegen, von den Sounds aus zu denken. Denn in beiden vorgestellten Folgen werden Klänge aufgenommen, die bereits vor der technischen Bearbeitung nicht mehr ihren Ursprüngen zugeordnet werden können.
Bevor eine sprachliche Beschreibung der Klänge oder gar eine symbolische Verknüpfung hergestellt wird, könnten diese in ihrem Klang und durch ihre technischen Bearbeitungsmöglichkeiten sämtliche Verknüpfungen zu Orten und Dingen ablegen und ihrerseits als Klang, Geräusch oder Ton wirken. Dies wäre im Sinne des „Sonic-Delinkings“ nach Ismaiel-Wendt eine Möglichkeit kulturelle Imaginationen zu durchbrechen und von den Klängen her, durch die Praxis des Hörens kulturübergreifend bzw. kulturelle Geografien überwindend Musik zu produzieren.
Was mir die Auseinandersetzung mit dem Format und mit der Materialität von Sound allerdings zeigt, ist, das eine Beschreibung des Gehörten durchaus schwierig ist, ohne Rückriff auf die Ursache, auf das „wonach klingt es?“. Andererseits fällt mir eine Vorstellung klanglicher Materialität als etwas Vor-soziales schwer, da aus meiner Perspektive das Hören stets Hörerfahrungen, kulturellem Wissen und einem kognitiven Zuordnungsdrang unterworfen ist. Daher erachte ich das Konzept des „Sonic Delinkings“ als äußerst sinnvoll, in dem die Musik als Aktivistin gegenüber den gesellschaftlichen und kulturellen Determinanten steht. Nicht etwa durch den Versuch einer von Grund auf neuen Komposition, sondern vielmehr durch eine Anerkennung dieses kulturellen Determinismus und seiner Dekonstruktion kann die Musik selbst ihrer Fixierung entkommen.
„Es bedarf einer intensiven Hör- und Dekompositionsarbeit, sich von der musikalischen Weltkarte zu trennen. Ich nenne das auch »Un-gehör-sam« gegenüber den üblichen mit Musik verbundenen kulturellen Repräsentationen.“ (Ismaiel-Wendt 2013: 5, H.i.O.)
Obwohl Sounds Of dahingehend Chancen bietet, scheint es, dass reihenweise St. Pauli- und Äthiopien-Songs entstehen, die relativ wenig mit den Realitäten dieser Orten zu tun haben und gleichzeitig die Identifikation mit oder die Aneignung von Orten und Kulturen über das Format Musik ermöglichen. Darüber hinaus ist für die „Dekompositionsarbeit“, von der Ismaiel-Wendt spricht, ein bestimmtes Wissen notwendig. Denn die Auseinandersetzung mit Sounds Of zeigt, dass die Künstler*innen annehmen, die Orte wahrheitsgemäß darzustellen und ihnen die problematische Reproduktion kultureller Identitäten und Stigmata gar nicht bewusst ist.
Als Programminhalt von ARD und ZDF, die als öffentlich-rechtliche Sender einen Bildungsauftrag verfolgen und von denen eine kritische und reflexive Auseinandersetzung mit ihren Inhalten erwartbar ist, erachte ich das Format als problematisch. Denn durch diese Zugehörigkeit wird abermals deutlich, dass „imaginäre Geografien“ soweit in unser kulturelles Verständnis eingeschrieben sind, dass sie ohne Zweifel als Wirklichkeit angenommen und bekräftigt werden. Gerade Sounds Of Äthiopien zeigt, dass der Künstler zwar versucht, das Land möglichst „real“ und kulturspezifisch akustisch erfahrbar zu machen. Doch findet dies auf der Grundlage von kulturellen Vorannahmen einer eurozentrischen Denkweise statt – sowie grundsätzlich der unmöglichen Idee, einen Ort, und hier ein ganzes Land, hörbar zu machen.
Anmerkungen
1 Von der Produktion, die im Anschluss an die Tonaufnahmen in Kliemanns Studio stattfindet, wird ein Video online gestellt, das Zusammenschnitte des Produktionsprozesses, der Arbeit mit dem Musikprogramm Ableton Live sowie Rückblicke in die Aufnahmesituationen an den jeweiligen Orten zeigt. Zwischendurch geben der Moderator und der*die jeweilige Künstler*in Tipps und Erklärungen zur Herkunft der Sounds, der Anwendung des Programms und ihrer Vorgehensweise beim Produzieren. Darüber hinaus lassen sie Anekdoten zu ihren Lieblingsorten einfließen, berichten von Erlebnissen und Besonderheiten, die sie zu vertonen versucht haben. Am Ende jeder Folge wird der entstandene Track gespielt und durch Bilder und Videomaterial, die während der Soundaufnahmen entstanden sind, ergänzt. So fügt sich Sounds Of nahtlos in die Reihe der Heimwerker*innen-Tutorials ein, für die Fynn Kliemann bekannt ist. ↩
2 Alle Episoden können über den Kanal „soundsof“ bei YouTube unter dem Link https://www.youtube.com/channel/UCMHo2UO5RQJPcC_abHvt_XQ abgerufen werden. ↩
Literatur- und Quellenverzeichnis
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