Die Rhythmusbewegung im frühen 20. Jahrhundet

Um 1900 kommt im deutschsprachigen Raum eine ästhetische Praxis auf, die Anleihen bei diversen Künsten nimmt (Musik, Tanz, Poesie, Sport), aber den Anspruch erhebt, das zu kultivieren, was allen Künsten als elementarer Vorgang zugrunde liegt: Rhythmik. Bis heute ist Rhythmik Disziplin an Musik- und Schauspielschulen, und Elementare Musikpädagogen behaupten bis heute, das Rhythmische sei der Urmodus aller Künste. Im Sport hat es sich als Rhythmische Sportgymnastik, daneben im Turnen und Eiskunstlauf erhalten. Die Grundidee der Rhythmusbewegung entwickelte sich aus der empirischen Ästhetik des 19. Jhs., die sich ausführlich mit dem rhythmischen menschlichen Erleben befasste (Theodor Fechner, Emil Hering, Ernst Mach, Wilhelm Wundt, Christian von Ehrenfels). Die Lebensphilosophie entwickelte das zu ausgearbeiteten Rhythmustheorien weiter (Henri Bergson, Ludwig Klages, Theodor Lipps, der frühe Martin Heidegger). Die Grundidee lautet: 1. Alle ästhetischen Artefakte aller Materien (Klang, Farbe, Form, Wort) sind aus wenigen rhythmischen Elementarmodi aufgebaut (2er- und 3er-Metrum). 2. Annähernd gleich große Teile/Dauern werden vom menschlichen Rhythmusbewusstsein als exakt gleich groß aufgefasst, lassen sich daher in rhythmische Verläufe integrieren. 3. Abfolgen quantitativ gleicher Teile/Dauern werden vom menschlichen Rhythmusbewusstsein als qualitativ ungleich aufgefasst (hin-her, tick-tack). 4. Unterscheidung von Metrum und Rhythmus: Metrum ist die abstrakte Grenze der aufeinander folgenden Dauern, Rhythmus das psychische Erleben und der körperliche Vollzug der Bewegung, der nach vorn (Auftakt) und nach hinten (Abtakt) über die metrischen Grenzen hinausschwappt. Wir deklinieren im Seminar diese Ideen auf den Feldern durch, die von der Rhythmusbewegung erfasst wurden und die sich vielfach durchkreuzen: Komponisten (Carl Orff, Émile Jaques-Dalcroze, Komponisten der Jugend- und der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung wie Hugo Distler u.a.), Musikalische Rhythmustheoretiker (Ernst Kurth, Hugo Riemann, Gustav Becking), Freitanzbewegung (Rudolf von Laban, Suzanne Perrotet, Mary Wigman, Rudolf Bode, Dorothee Günther, Gret Palucca, die Duncan-Schwestern), Sport (Carl Diem, Olympiade 1936), Reformpädagogik (Max Tepp, Martin Luserke, August Halm, Fritz Jöde, Georg Götsch), Poetik (Stefan George und George-Kreis, Charontiker), Pädagogik vor dem und im NS (Hans Freyer, Rudolf Bode, Ernst Krieck). – Sehr viel Material, wenig durch Sekundärliteratur erschlossen, das wir uns aneignen durch verteilte Lektüre, von denen wir uns gegenseitig nach einem standardisierten Schema Abstracts online zur Verfügung stellen. Von Woche zu Woche werden wir anhand kurzer Texte, die von allen gelesen werden, die Grundideen der Rhythmusbewegung diskutieren und in Selbstexperimenten erproben. 

Dozent:

Prof. Dr. Rainer Bayreuther 

Seminarplan

28.04.2015: Wilhelm Wundt

Wundt, Wilhelm: Psychologische Studien, Bd. XII, 1896 

Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie, alle Editionen,1874-1911 

Vorbereitung: Paul Zimmermann (Abstract)

05.05.2015: Philosophie

Lipps, Theodor: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, 2 Bde., Leipzig und Hamburg 1903/1906, 1914 (Abstract)

Lipps, Theodor: Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1909 (Abstract)

Vorbereitung durch den Dozenten

Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917) (Im Seminarapparat)

Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), § 81 (Im Seminarapparat)

Vorbereitung: Schulamith Pieper

Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1928), §§ 78ff. 

Vorbereitung durch den Dozenten

Schelling (Abstract)

Klages Lebensphilosophie (Abstract)

Klages – Der Geist als Widersacher der Seele (Abstract)

12.05.2015: Musikwissenschaft

Bücher, Karl: Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1897 (Im Seminarapparat) (Abstract)

Vorbereitung: Jasmin Esche

Riemann, Hugo: System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903 (Verweis auf Bücher)

Vorbereitung: Jasmin Esche

Bergson, Henri: Zeit und Freiheit (1888), dt. Jena 1911 (Im Seminarapparat) (Abstract)

Vorbereitung: Moritz Constantin

Kurth, Ernst: Grundlagen des linearen Kontrapunkts, Bern 1917 (Wird vom Vortragenden besorgt) (Abstract)

Vorbereitung: Kriss Körnig

Becking, Gustavt: Zur Musiklischen Romantik, Halle (Saale) 1924 

Bode, Rudolf: Bewegung und Gestaltung, Berlin 1936 

19.05.2015: Jugendbewegung

Jöde, Fritz: Musik. Ein pädagogischer Versuch, Wolfenbüttel 1919 (Im Seminarapparat) (Abstract)

Vorbereitung: Jennifer Harris

Tepp, Max: Vom Sinn des Körpers, Hamburg 1919 

Tepp, Max: Die Vernunft des Leibes, Lauenburg 1922 

Vorbereitung durch den Dozenten (Abstract)

Krieck, Ernst: Musische Erziehung, Wolfenbüttel 1928, veränderte Neuaufl. Leipzig 1933, 1935 (Im Seminarapparat) (Abstract)

Vorbereitung: Sara Faradji

Freyer, Hans: Prometheus (1923) (Abstract

Freyer, Hans: „Musik und Staat“, in: ders.: Über die ethische Bedeutung der Musik. Zwei Vorträge (= Werkschriften der Musikantengilde Heft 5), Wolfenbüttel u.a. 1928, S. 15-24 

Vorbereitung durch den Dozenten

Blüher, Hans: Tanz und Gymnastik, Lauenburg a. d Elbe 1920

Bode, Rudolf: Der Weltkampf, München 1928 

26.05.2015: Tanz, Gymnastik und Sport

Bode, Rudolf: Energie und Rhythmus, Goslar 1939 

Bode, Rudolf: Rhythmus und Körperbeziehung, Jena 1923 

Bode, Rudolf: Alte und neue Pädagogik, Breslau 1923 

Diem, Carl: Olympische Jugend, Berlin 1936 

Diem, Carl: Olympische Flamme, Berlin 1942 

Diem, Carl: Theorien der Gymnastik, Berlin 1930

Günther, Dorothee: Der Tanz als Bewegungsphänomen

Wigman, Mary: Rudolf von Labans Lehre vom Tanz, Dresden 1921 (Abstract)

Wigman, Mary: Aus „Rudolf von Labans Lehre vom Tanz“, Dresden 1922 (Abstract)

von Laban, Rudolf: Die tänzerische Situation unserer Zeit, Dresden 1936 

von Laban, Rudolf: Gymnastik und Tanz, Oldenburg 1926 

Jaques-Dalcroze, E.: Der Rhythmus als Erziehungsmittel für Leben und Kunst, Basel 1907 

Jaques-Dalcroze, E.: Rhythmische Gymnastik – Erster Band, 1906