Das koloniale Erbe der Instrumentenkunde

Ein Forschungsprojektseminar

Seminar | Leuphana Universität Lüneburg | Studiengang: Kulturwissenschaften | Modul: Musik und auditive Kultur | Dienstag, 10:15-11:45 | Raum C11.319

Die Etablierung der Instrumentenkunde als wissenschaftliche Disziplin vor gut einem Jahrhundert ist untrennbar mit dem damaligen Selbstverständnis europäischer Nationen verknüpft, als Kolonialmächte Besitz- und Deutungsanspruch auf alles zu haben, was den unter ihrer »Schutzherrschaft« stehenden Gebieten entstammt. Mit den Forschungsexpeditionen in die Kolonien werden auch zahlreiche bis dahin hier unbekannte Musikinstrumente aus Asien und Afrika nach Europa gebracht, oftmals unter fragwürdigen oder zumindest ungeklärten Umständen. Von dieser »Flut« noch weitestgehend unerforschter Objekte profitieren vor allem die zu dieser Zeit populären völkerkundlichen Museen und Musikinstrumentensammlungen. Diese sehen sich dadurch jedoch zugleich vor die Aufgabe gestellt, sich wissenschaftlich – und das heißt damals vor allem: objektiv und systematisch – mit diesen Instrumenten auseinandersetzen, sie zum Gegenstand einer Erzählung der Musikinstrumente »aller Völker und aller Zeiten« (Curt Sachs) zu machen. Es ist die Geburtsstunde einer Disziplin, die für sich in Anspruch nimmt, Aussagen über Dinge treffen zu können, über deren Herkunft und Gebrauch sie nur wenig weiß, und deren Versuche, kulturelle Artefakte unabhängig von ihrer kulturellen Dimension analysieren zu wollen, aus heutiger Sicht als Ausdruck einer eurozentristischen Kulturhegemonie, ja als »Akt der Kolonisation« (Kevin Dawe) gelesen werden können. 

Das Seminar reflektiert und diskutiert die Voraussetzungen und Bedingtheiten der wissenschaftlichen Instrumentenkunde im europäischen Kolonialismus und betritt dabei bemerkenswerterweise seinerseits »Terra incognita«, denn dieses Kapitel in der Geschichte der Instrumentenkunde ist bislang noch weitgehend unkartografiert geblieben. Aus diesem Grund können wir hier nicht auf einen tradierten Kanon an einschlägiger Literatur zurückgreifen, sondern müssen uns selbst auf Spurensuche begeben und wissenschaftshistorische Forschung in Echtzeit betreiben. Die Studierenden entwickeln im Seminar eigenständig Forschungsfragen zum Thema, diskutieren in Gruppen und im Plenum mögliche theoretische und methodische Ansätze und veröffentlichen ihre Ergebnisse am Ende des Semesters in Form von Blogbeiträgen auf der Webseite des ((audio))-Schwerpunkts. Auf diese Weise erproben sie im Laufe des Semesters ganz praktisch und am konkreten Beispiel Prozesse des wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei erhalten sie fortlaufend inhaltliche Impulse und stehen in engem Austausch miteinander und mit der Seminarleitung.

Dozentin:
Sarah-Indriyati Hardjowirogo
hardjowirogo@leuphana.de

Tutorin:
Magdalena Lanman Niese
magdalena.niese@stud.leuphana.de

Prüfungsleistung:

Die Prüfungsleistung wird eine schriftliche wissenschaftliche Arbeit in Form eines ausführlichen Blogbeitrags sein.

Anmeldung und weitere Informationen auf mystudy.

Seminarplan

19.10.21 – Einführung

Organisatorisches 
Seminarplan
Thematische Einführung

Sitzungsfolien

26.10.21 – Eine Wissenschaft der Musikinstrumente: Die Entstehung der Organologie

Input: 
Rossi Rognoni, Gabriele (2008): »The Development of Organology as a Discipline through Early Museum Catalogues«. Orig.: »La definizione dell’organologia come disciplina attraverso i primi cataloghi museali (1866–1911).« (Übers. Julia Weiss) Annali, Nuova Serie IX. Firenze: Titivillus. S. 155–171.

Catalogue of the Crosby Brown Collection of Musical Instruments of all Nations

A Descriptive Catalogue of the Musical Instruments in the South Kensington Museum

Mahillon Catalogue

02.11.21 – Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit um die Jahrhundertwende

Input: 
Kindt, Tom & Hans-Harald Müller (2008): »Wissenschaften: Historische Wissenschaften – Geisteswissenschaften.« In: Haupt, Sabine & Stefan Bodo Würffel (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. S. 662–677.

09.11.21 – Denkmäler der Tonkunst: Die Musikwissenschaft im späten 19. Jahrhundert

Input:
Adler, Guido (1885): »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft.« Selbständige Abhandlungen I. Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 1. S. 5–20.

16.11.21 – Die Außereuropäischen: Die »Völkerkunde« im frühen 20. Jahrhundert

Input: 
Luschan, Felix, Bernhard Ankermann & Königliche Museen zu Berlin (Hrsg.) (1914): Anleitung zum ethnologischen Beobachten und Sammeln. Berlin: Georg Reimer. (Auszug)

23.11.21 – »Musik der Fremdkulturen«: Das Programm der »Vergleichenden Musikwissenschaft«

Input: 
Sachs, Curt (1974): Vergleichende Musikwissenschaft. Musik der Fremdkulturen. Wilhelmshaven: Heinrichshofen. (Auszug)

30.11.21 – Fremde Instrumente erklären: Instrumentenkunde als Ausdruck kolonialen Denkens

Input:
Dawe, Kevin (2003): »The Cultural Study of Musical Instruments.« In: Clayton, Martin, Trevor Herbert & Richard Middleton (Hrsg.): The Cultural Study of Music. A Critical Introduction. New York, London: Routledge. S. 274–283.

07.12.21 – Andere Wissenschaften der Musikinstrumente: Das ignorierte Wissen

Input:
Jairazbhoy, Nazir Ali (1990): The Beginnings of Organology and Ethnomusicology in the West. In: Sue Carole DeVale (Hrsg.): Selected Reports in Ethnomusicology. Volume VIII Issues in Organology. S. 67-78.

14.12.21 – Forschungsexpeditionen

Input: 
Frobenius, Leo (1907): Im Schatten des Kongostaates. Bericht über den Verlauf der ersten Reisen der D.I.A.F.E. von 1904–1906, über deren Forschungen und Beobachtungen auf geographischem und kolonialwirtschaftlichem Gebiet. Sechstes Kapitel: Arbeiterexperimente. Berlin: Georg Reimer. S. 97–111.

21.12.21 – Instrumentensammlungen

Input:
Sachs, Curt (2017): »Bedeutung, Aufgabe und Museografie von Musikinstrumentensammlungen.« In: Vom Sammeln, Klassifizieren und Interpretieren. Die zerstörte Vielfalt des Curt Sachs. Mainz u.a.: Schott.

11.01.22 – Protagonisten: Ankermann, Hornbostel, Sachs

Input:
Elste, Martin (2017): »Curt Sachs – Stationen seines Lebens.« In: Behrens, Wolfgang, Martin Erste & Frauke Fitzner (Hrsg.): Vom Sammeln, Klassifizieren und Interpretieren. Die zerstörte Vielfalt des Curt Sachs. Mainz u.a.: Schott.

Meucci, Renato (2017): »Curt Sachs and the Foundations of Musical Organology.« In: Behrens, Wolfgang, Martin Erste & Frauke Fitzner (Hrsg.): Vom Sammeln, Klassifizieren und Interpretieren. Die zerstörte Vielfalt des Curt Sachs. Mainz u.a.: Schott.

Stockmann, Erich: »Vorwort.« In: Hornbostel, Erich Moritz von (1999): Tonart und Ethos. Aufsätze zur Musikethnologie und Musikpsychologie, hrsg. v. Christian Kaden & Erich Stockmann. Wilhelmshaven: Florian Noetzel. S. 5–21. 

18.01.22 – Häuser: Humboldt-Forum, British Museum, Königliches Museum für Zentral-Afrika

Input:
Holfelder, Moritz (2019): »Ich bin’s mal wieder, euer Humboldt Forum!« In: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin: Ch. Links. S.139-162.

25.01.22 – Einmal dekolonisieren, bitte!

Input:
Holfelder, Moritz (2019): »Sieben Vorschläge zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit.« In: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Berlin: Ch. Links. S.175-190.

01.02.22 – Wrap-up und Ausklang