Fritjof Mangerich, 2020 (Ausschnitt „Arseny Avraamov – Symphony of Factory Sirens“, 1922)

Abel Paúl

Tierra y Centro de la Tierra, 2018, 15:03 Min.

Für Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Oberflächenwandler und Resonanzraum, Midi-Controller

Aufgeführt von „Distractfold“: Rocío Bolaños, Linda Jankowska, Emma Richards, Alice Purton und Haize Lizarazu.
Live-Aufnahme in der Königlichen Akademie von Spanien in Rom am 26.06.2018.

Abel Paul war 2014 Kompositionsstipendiat im Künstlerhaus Lauenburg.

Tierra y Centro de la Tierra

In den letzten Jahren habe ich mich mit der Gestaltung von Mischinstrumenten sowie mit der Erforschung einer Poetik der Hybridisierung beschäftigt. In diesem Kontext habe ich verschiedene Techniken entwickelt, um die Interaktion zwischen Lautsprechern, Oberflächenwandlern und akustischen Instrumenten zu untersuchen. Außerdem interessiere ich mich für den Einsatz architektonischer Räume als komplexe Resonatoren, die mit anderen Klangquellen interagieren und sogar selbst zu akustischen Instrumenten werden können. Mein Werk Tierra y Centro de la Tierra (2018) ist ein Beispiel für die Koexistenz und Interaktion dieser kompositorischen Themen. Die Komposition für Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, MIDI-Controller, Transducer-Lautsprecher und Resonanzraum entstand während meines Aufenthalts als Stipendiat an der Königlichen Akademie von Spanien in Rom. Dieses antike Gebäude ist aus architektonischer Sicht sehr interessant. Es befindet sich auf dem Gianicolo-Hügel und umfasst mehrere Gärten, historische Säle und zwei Kreuzgänge aus der Renaissance. Im ersten Kreuzgang befindet sich das berühmte Tempietto von Bramante. Der zweite Kreuzgang hingegen weist eine Reihe von Arkaden und Fresken aus der Renaissance auf. Die Besonderheit dieses zweiten Kreuzgangs besteht darin, dass er über einem antiken römischen Wasserdepot errichtet wurde. Dieser massive halbkugelförmige Raum ist durch eine kleine Luke mit der Oberfläche des Kreuzgangs verbunden. In Tierra y Centro de la Tierra habe ich begonnen, das Wasserdepot als einen großen Resonanzraum zu nutzen, in dem mehrere Lautsprecher aufgestellt sind. Der im Wasserdepot erzeugte Klang schallt aus der Luke heraus und interagiert mit den im Kreuzgang spielenden Musiker*innen, die um die Luke herum verteilt sind. Das klangliche Zusammenspiel zwischen der oberirdischen- und der unterirdischen Ebene des Klosters erzeugt eine Reihe von Echos und Dialogen, die den Hörprozess nach und nach strukturieren.

Darüber hinaus sind die Streichinstrumente in diesem Stück als hybride Objekte konzipiert. Die Musiker*innen ersetzen ihre Bögen gelegentlich durch Transducer-Lautsprecher. Diese Lautsprecher leiten Schwingungen, in mechanische Energie umgewandelte Audiosignale, auf jegliche Oberflächen, gegen die sie gedrückt werden. Die Streichinstrumente werden hierbei zu „leeren Blättern“, auf die beliebiges Klangmaterial übertragen werden kann. Die Geräte werden an verschiedene Bereiche der Instrumente (Saiten, Resonanzkörper, Stege, Bogenhaare, usw.) gehalten und an ihnen gerieben. Die durch die Reibung hervorgerufene Klangwirkung der Transducer-Lautsprecher beeinflusst das akustische Resultat, welches eine Mischung zwischen dem übertragenen Klang und der Klangwelt des Instruments ist. In Tierra y Centro de la Tierra besteht das Material, das über die Wandler abgespielt wird, aus vorab aufgenommenen Samples des eigenen Klangs der Streichinstrumente. In dieser Hinsicht werden die Instrumente zu „Zerrspiegeln“, die ihre eigene vor-aufgezeichnete klangliche Identität modulieren und verzerren. So wird nicht nur das römische Wasserdepot zu einem komplexen akustischen Modulator, sondern auch die Instrumente selbst werden zu akustischen Modulatoren. Die auf die Streichinstrumente projizierten und die über die Lautsprecher des Wasserdepots abgespielten Materialien stimmen oft überein und erzeugen eine Reihe von Echos, klanglichen Assoziationen und Synergien, die eine komplexe Hörerfahrung erzeugen. In dieser Hinsicht bestimmt der ständige Wechsel und Übergang zwischen resonanten Makro- und Mikroräumen den Gesamtcharakter dieser Komposition.

Konzeption / Projektleitung

„Sound in Transition“ Benjamin F. Stumpf, Leitung, Offenes Atelier / Künstlerhaus Lauenburg
und Stadtgalerie Künstlerhaus Lauenburg

Kooperation

Prof. Dr. Michael Ahlers
Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung (IKMV)
Leuphana Universität, Lüneburg

Prof. Dr. Rolf Grossmann
Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien (ICAM)
Leuphana Universität, Lüneburg

Sven Lütgen
Zentrum für Medien / Sound Studies / Intermedia
Muthesius Kunsthochschule, Kiel

*Copy Right (Grafik [Header]): Fritjof Mangerich, 2020 (Ausschnitt „Arseny Avraamov – Symphony of Factory Sirens“, 1922)