von Jonas Kellermeyer
Schlaf ist eine ambivalente Angelegenheit. Er kann regenerierend wirken, wenn man bereit ist, sich ihm hinzugeben, er kann aber auch einen Störfaktor darstellen, wenn er ungebeten einsetzt — die Augen fallen zu, Erschöpfung.
Auf seinem Solo-Album „Sleep“ präsentiert Ja, Panik!-Frontmann Andreas Spechtl ein regelrechtes Sammelsurium an pop-referentiellem Material. Das Thema „Schlaf“, wie bereits im programmatischen Titel des Albums angeklungen sein mag, bildet den Rahmen. Und das gleich auf mehreren Ebenen: einerseits lädt die musikalische Form zum „wegdämmern“ ein; ein nicht unbeachtlicher Punkt, an dem Kritik an Pop-Musik immer wieder kondensiert: Das „Einlullen“ der Hörer, jeden aufkeimenden Widerstand im weichgespülten Klangkosmos zu ersticken, das ist ein Vorwurf, der vielen Künstlern und ihrem Material nur allzu häufig gemacht wird. Es geht aber auch anders: Der Schlaf als kleiner Bruder der Revolution, das ist ein anderer, dialektisch angehauchter Komplex, dessen Wirkweise und besondere Beschaffenheit im folgenden von besonderem Interesse sein soll. Speziell das Stück mit dem plakativ-programmatischen Titel „Hauntology“ kann hier stellvertretend für eine solche Lesart stehen und soll dementsprechend in diesem Essay die Initialzündung für eine Behandlung mit dem namensgebenden philosophischen Konzept liefern.
Das Konzept der „Hauntology“ — ein Wortspiel, das sich (direkt) auf die philosophische Disziplin der „Ontologie“ wie auch auf das Heimgesucht-Werden (to be haunted) von Geistern (des Vergangenen) bezieht — geht auf den französischen Philosophen Jacques Derrida zurück. (Vgl. Derrida 2016) Auch wenn es spätestens seit Scritti Polittis selbigem Denker gewidmeten „Hit“1 längst nicht mehr „cool“ ist, seine philosophischen Theoreme zu vereinnahmen, wollen wir in diesem Fall ein Auge zudrücken; aus gutem Grund! Denn obwohl alles an diesem Werk zunächst ein wenig anbiedernd, oder gar „pseudo-intellektuell“ wirken mag, steckt in dem, streckenweise sehr sphärischen Song ein interessanter Ansatz: mittels Instrumentalpassagen, die in ihrer Verfasstheit bruchstückhaften Jazz-Patterns ähneln und bisweilen immateriell wirkenden (unverständlichen) Vocal-Samples, erhält der geneigte Hörer den regelrechten Eindruck, einer Séance beizuwohnen, bei der die Geister vergangener Soundepochen sich zu Wort melden. Die so entstehende Kakophonie wirkt denn auch eher bedrückend denn befreiend.
Und genau hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben: Das „Albtraumhafte“ des Tracks drückt sich in einer überwältigenden „Komplexität“2 aus, die zu reduzieren während der Rezeption sich, wenngleich möglich, so doch in höchstem Grade schwierig gestaltet. Die Geister der Vergangenheit kumulieren sich, werden mehr und kämpfen viel mehr um die Deutungshoheit des Stückes, als „versöhnlich“ zusammen wirken zu wollen. Der Nachhall des Nachhalls, der sich hier schemenhaft präsentiert, lässt die Heimsuchung umso eindrucksvoller von statten gehen. Dadurch, dass zu jeder Zeit die Geister des Vergangenen zugegen sind, ist ein Weiterkommen, eine (utopische) Zukunft nicht (länger) möglich. (Vgl. Fisher 2014: 21)
Das ursprüngliche Konzept Derridas bezieht seine Schlagkraft vor allem aus einem Ausspruch Hamlets: „The time is out of joint!“ Derrida weiß in seinem Text folgenden Umstand zu betonen: „Time: Das ist die Zeit, aber auch die Geschichte, und es ist die Welt.“ (Derrida 2016: 35) Mit dieser Feststellung die adäquate Übersetzung des Shakespeare-Zitates betreffend, wird betont, dass selbst auf der textlichen Ebene eine Art „Ent-Fugung“3 statt findet. Der lineare Ablauf der Zeit wird also durch die Präsenz von (sprichwörtlichen) Geistern ad absurdum geführt. Der „entmutigende[] Eindruck des Déja-vu“ (ebd.: 31) ist maßgeblich an der Dekonstruktion von so etwas wie fixierter Identität beteiligt: die Singularität eines bestimmten Standpunktes existiert nicht/nicht mehr/noch nicht. Da „[e]in Gespenst […] immer ein Wiedergänger“ (ebd.: 26) ist, liegt sein Erscheinen entscheidend in der „Wiederkehr“ begründet; eben in der Heimsuchung, dem „haunting“.
Um nun den Bogen zu Andreas Spechtls Song zurück zu schlagen, lohnt es sich einen Blick auf die, doch recht karge, textliche Ebene zu werfen. Hier dominiert eine Vokabel, die auf klanglicher/sonischer Ebene ebenfalls stark vertreten ist: das Echo. „Each man’s troubles are just the echo of another man’s troubles.“ Das Echo ist vielleicht die beste Illustration dessen, was die Erfahrung der Heimsuchung ausmacht: es konstituiert sich erst mit der Wiederkehr. Erst in dem Augenblick, in dem eine (eigentlich bereits vergangene) Passage erneut4 erklingt (und mit neuem Klangmaterial interferiert), statuiert sich der un-heimliche Zusammenhang, den wir als „Echo“ zu bezeichnen gelernt haben. Warum das Echo nach wie vor einen „Schauer“ zu erzeugen vermag, kann mit dieser Anwesenheit des nicht (mehr) Anwesenden in Verbindung gebracht werden: Das Echo legt Zeugnis von Ge-wesenem ab, das im Moment seines Erklingens nur noch als „Spur“5 zu identifizieren ist. Es evoziert ein (gleichwertiges?) Nebeneinander von Zeitlichkeiten, das der identitätsstiftenden Struktur der Welt einen regelrechten Strich durch die metaphorische Rechnung zu machen im Stande ist.
Nimmt man dementsprechend die lineare Zeitlichkeit als ein stabilisierendes Momentum (gerade für ein örtlich ungebundenes, emphatisch „mobiles“ Individuum) ernst, so wird denn auch offensichtlich, was es bedeutet, diesen Faktor von selbstbestimmter Konstanz aufzugeben: es bedeutet nämlich die Gefahr zu riskieren, sich in einer durch hohe Akzeleration auszeichnenden (verlorenen) Gegenwart zu verlieren, die gleichzeitig auch Vergangenheit und Zukunft be-deutet. Genau diese Angst bricht sich in Mark Fishers Buch Bahn. Auch wenn Fisher betont, es gehe ihm nicht um eine etwaige „direction of time“ (Fisher 2014: 6), sondern viel eher um die veränderte psychologische Wahrnehmung und kulturellen Erwartungen, die mit der Post-World-War-2-Era einhergegangen seien, ist doch ersichtlich, dass sein Unbehagen maßgeblich von der (vermeintlichen) Rekursivität bzw. der Wahrnehmung der Rekursivität bestimmt wird (vgl. ebd.: 9 f.), also von einem manifesten Bruch mit der Idee eines linearen Fortschritts (der Zeit) herrührt. Wenn es ihn in der Einleitung seines Buches etwa dazu verleitet ein Urteil nach dem Schema „this [the Arctic Monkeys] could quite easily have been a postpunk group from the early 1980s“ (ebd.: 10), dann könnte man ebensogut entgegnen: „Wer bestimmt, dass es sich bei den Stereotypen, die mit den 80er Jahren in Verbindung gebracht werden, um eine valide Kategorisierung handelt?“ Dieser Schluss ist nur möglich, wenn man der simplen (marxistische) Idee eines linearen Fortschritts auf den Leim geht, der stets auf ein (weitestgehend unbestimmtes) „höheres Ziel“ hin ausgerichtet ist.6 In ähnlicher Weise verhält sich auch der frühe Diedrich Diederichsen zum Thema des Fortschritts.7 Der „Pop-Adorno“8 findet allerdings einen gänzlich anderen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Fortschritt und „Rückbezug“9, die Second Order Hipness:
„Das, was damals [1972] begann, nenne ich Second Order Hipness. Ich kann nicht sagen, wie lange schon, aber es muß schon eine Ewigkeit gewesen sein, daß es so ging. Wie ging?
Weiter. Es ging immer weiter“ (Diederichsen 2010: 17).
So folgt denn auch schnell die Erkenntnis: „Weiter mußte Wegstrecken weiter sein, ganz reale Kilometer der geistigen Landschaft zurücklegen. Ziel: Sehgewohnheiten ändern.“ (Ebd.: 25) Diese Änderung der Sehgewohnheiten muss in einer Zeit, in der jeder Winkel der Welt gefunden und kartographiert zu sein scheint, einhergehen mit einem Perspektivwechsel, mit der „Neigung, Was- Fragen durch Wie-Fragen zu ersetzen.“ (Luhmann 1997: 147) Der Transformationsraum Pop bezieht seine Attraktivität fortan nicht mehr aus der modernen Bewegung nach vorne, sondern vor allem aus der postmodernen Neigung zurückfallen zu dürfen, „Retro“ zu sein. (Vgl. Diederichsen 2010: 34 ff.)
Genau diese Entstehungsgeschichte ließe sich mit der „Hauntology“ ebenfalls beschreiben: der Schlaf als kleiner Bruder der Revolution, der es, durch Heimsuchungen eingekerbt, dem Subjekt ermöglicht Neues dort zu finden, wo der (depressive) Melancholiker lediglich das immergleiche zu sehen vermag. Eine geänderte Perspektive auf den Sound (der 70er, 80er, 90er etc.) verschiebt auch die Bedeutung, die einem solchen zukommt. Gerade dann, wenn verschiedene Klang(um-)welten aufeinander treffen, miteinander interferieren und zu „spuken“ beginnen, kann das euphorische „Weiter!“ von der Linearität abweichen, sich von bis dato festgeschriebenen Konventionen emanzipieren.
Andreas Spechtls Song eine solche Funktion zuzuschreiben wäre vielleicht vermessen. Das Stück liefert letztlich nicht mehr als den Anstoß zu einer Reflexion der Art, die in diesem Essay vorgenommen wurde. Es mag sich bei dem Lied nicht um den ersten Versuch der Vermittlung dieses Topos handeln — ganz sicher nicht um den letzten. Letztlich „produzieren die Konsumenten [und so auch der Autor dieser Zeilen] durch ihre Signifikationspraktiken etwas, das die Gestalt von ‚Irr-Linien‘ haben könnte […], zum Teil unlesbare ‚Querverbindungen‘“ (Certeau 1988: 21 f.), was die Handlungsmacht des Einzelnen im Bereich der Pop-Musik sehr eindrucksvoll zur Geltung bringt. Es ist eben nicht nur der Interpret10, der etwas zum Diskurs beizutragen weiß und für das Gelingen der (künstlerischen) Produktion verantwortlich ist; am Ende ist es die, bisweilen „verifizierende“, Leistung des Publikums Sinn zu generieren, Unterschiede festzustellen und ebensolche durch ihren (subversiven) Gebrauch zu untermauern.
Verwendete Literatur
Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Merve Verlag, Berlin.
Derrida, Jacques (2016): Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Diederichsen, Diedrich (2010): Sexbeat. Kiepenheuer & Witsch, Köln.
Diederichsen, Diedrich (2014): Über Pop-Musik. Kiepenheuer & Witsch, Köln.
Fisher, Mark (2014): Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures. Zero Books, Winchester.
Heidegger, Martin (1967): Sein und Zeit. Max Niemeyer Verlag, Tübingen.
Luhmann, Niklas (1997): Die Kunst der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Serres, Michel (1987): Der Parasit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
1 Scritti Politti „Jacques Derrida“ (https://www.youtube.com/watch?v=pNNbJ04167I) ↩
2 Die Rede ist an dieser Stelle von quantitativer Komplexität, keineswegs von einer solchen qualitativer Art. ↩
3 Heidegger lässt grüßen… ↩
4 Dieses „erneute“ Erklingen ist dabei keine exakte Kopie, sondern vielmehr eine strukturelle Wiederholung unter neuem Vorzeichen. ↩
5 Zum Begriff der Spur siehe Heidegger (1967) ↩
6 Bei diesem höheren Ziel muss es sich nicht zwangsläufig um den Kommunismus handeln. ↩
7 Sein Buch „Sexbeat“ strotzt nur so vor Beschwörungen des emphatischen „Weiter!“ ↩
8 Rolf Großmann übernimmt diesen spöttischen Titel aus der Süddeutschen Zeitung Nr. 94, 24.3.2003, S. 13. ↩
9 Der Begriff des Rückbezugs soll nicht missverstanden werden als Synonym für „Nostalgie“; es geht lediglich um eine deskriptive Spielart in einer vom Primat des linearen Fortschritts geprägten Welt. ↩
10 „Wer sich um die Position [sprich: um die Beziehung] kümmert, wird den, der sich um den Inhalt kümmert, stets schlagen.“ (Serres 1987: 63) Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Figur des Interpreten zum dominierenden Protagonisten innerhalb der Pop-Musik aufgeschwungen hat, während die Produzenten (ihrerseits wiederum eigentlich Reproduzenten) „als die Svengalis der rätselhaften Konstruktion des Pop- Musik-Zusammenhangs“ (Diederichsen 2014: 50) im Hintergrund die Fäden ziehen und nur in sehr seltenen Fällen als „Stars“ in Erscheinung oder gar ins Rampenlicht treten. ↩
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