Bernd Schmeikal*
"BOROTO - morphogenetische Klangbilder"
"Der Beitrag heißt BOROTO (mit 'T'). Das im Text vorkommende Wort BORORO (mit 'R') bezeichnet
zweierlei:
- (1) einen von Nimuendaju, Lowie, von den Steinen und Lévi-Strauss untersuchten Ge-Sprachen
Indianerstamms Brasiliens und
- (2) ein Computerprogramm zur Generierung von Mandalas und komplexen gruppentheoretischen
Strukturen aus einigen wenigen morphogenetischen Operationen.
BORORO ist also ein typisches Programm der strukturalen
Anthropologie. Es generiert Symmetrien, in denen die Verbindung zwischen räumlicher, sozialer, ritueller,
zeremonieller und mythologischer Struktur zentrales Anliegen der Darstellung ist. Es geht hier also um die
symmetrische, gewissermaßen archetypische, Strukturierung von Raum im weitesten Sinn.
BOROTO bezeichnet lediglich ein Computerprogramm.
Das Wort leitet sich von BORORO und TON ab, entsteht somit aus einer Zusammenziehung
plus Abkürzung. Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen BORORO und BOROTO:
(N.C.)
- (1) BORORO arbeitet mit Erzeugendensystemen der algebraischen Gruppentheorie und ist ein lineares
generatives System im klassischen Sinn. Wie die mathematische Mythentheorie oder die Theorie der
Verwandtschaftsrelationen benützt es ein geschlossenes algebraisches System der Symmetriegruppen. In
diesem Sinn gehört es ganz dem Strukturalismus an. Es geht von der Theorie der sog. 'dualistischen
Organisation' aus. Dabei handelt es sich um einen Organisationstypus, in dem 'konzentrische' und 'diametrale'
Ordnungsmuster koexistieren.
- (2) BOROTO hingegen basiert auf einem iterativen nichtlinearen System und erzeugt einen dem
Henon'schen verwandten Attraktor, der ebenfalls Mandalas generiert, in dem jedoch Symmetriebrechung
möglich ist. Auch hier koexistieren konzentrische und multilaterale Ordnungsmuster. Eine Transposition des
Attraktors in den auditiven Bereich ergibt eine Phase-Locked-Loop (PLL)-Anordnung bzw. ein melodisches
System ineinander verschränkter Rhythmen unterschiedlicher Taktlänge (interlocked rhythms), wie wir es in
der Musik schriftloser Völker vorfinden. In diesem Sinn gehört BOROTO eher dem Neostrukturalismus an."
(B.S.)
Diese sehr präzise, aber ebenso kryptische Beschreibung des vorgestellten Programms zur "Klangbild"-Erzeugung
ist für den Nichtfachmann sicher erklärungsbedürftig und erschloß sich den HyperKult III-Teilnehmern erst durch
Vortrag und -spiel von Bernd Schmeikal. (Bibl. Hinweis )
Schmeikal/Urschütz gehen von einem anthropologischen
Ansatz aus, der Parallelen (bzw. gemeinsame Prinzipien) zwischen mathematischen
Strukturen und der soziokulturellen Organisation einer menschlichen Gemeinschaft
annimmt ("strukturale Anthropologie", s.o.). Werden diese Strukturen mittels
eines Computerprogramms visualisiert und in Klänge umgesetzt, so ergeben sich
mathematische "Klangbilder". Wenn diese morphogenetischen
Klangbilder von uns in einem ästhetischen Zusammenhang betrachtet, gehört
oder gar als Partitur nachvollzogen werden, gehen sie wiederum in einen soziokulturellen
Prozeß ein. Sein spezielles Verständnis des Musizierens
nach solchen "Partituren" unterscheidet Bernd Schmeikal dabei von der üblichen
Praxis der Computermusik. Daß auch Berührungspunkte
mit okkulten Phänomenen bzw. dem "Schamanismus" zur Sprache kamen, machte
den besonderen Reiz des Vortrags aus. Ohne die informatiktypischen 'rationalen
Scheuklappen' konnte sich ein völlig neues und höchst anregendes kultisches
HyperKult-Verständnis bei den Zuhörern bilden. (R.G.)
"Wir gedenken, einen hyperkultischen schwarz-weiß-Kontrast zu setzen, der in etwa die Relation zwischen den
frühen Filmdokumenten über die Tänze schriftloser Stämme und dem supercolorigen Crocodile Dandy
wiederspiegelt." (B.S.)
Bernd Schmeikal
Kundmanngasse 26/8
A-1030 Wien
*(Der Beitrag wurde zusammen mit Walter Urschütz angekündigt, der jedoch nicht
an der HyperKult III teilnehmen konnte.)
s.a. Bernd Schmeikal-Schuh: "Logic from space". In: Quality and Quantity 27/1993, 117-
137. (Kluwer Acad. Publ., Netherlands)
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HyperKult III 'Sound Page'